[SAV-newsletter] Schröder sagt A – wann folgt das B?

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Mo Feb 9 16:14:19 CET 2004


„Der Standpunkt der SPD ist nicht mehr der der Arbeiter, sondern nur 
noch der Abgehobenen.“
(aus einem Austrittsschreiben eines SPD-Mitglieds)

Gerhard Schröders Rücktritt vom SPD-Parteivorsitz, nur drei Monate nach 
seiner Wiederwahl in diese Funktion auf dem Bochumer Parteitag, 
symbolisiert den Niedergang der Sozialdemokratie in ihrer Metamorphose 
von einer bürgerlichen Arbeiterpartei (einer Partei deren Mitglieder 
weitgehend aus der Arbeiterklasse kamen und die von der Mehrheit der 
GewerkschafterInnen als "ihre" Partei gesehen wurde, aber eine 
pro-kapitalistische Führung hatte) zu einer durch und durch 
kapitalistischen Partei. Diese Wandlung hat nicht mit der Übernahme der 
Regierung 1998 begonnen, wurde aber dadurch beschleunigt und vertieft. 
Spätestens seit der Verkündung der Agenda 2010 kann die SPD-Führung 
niemanden mehr mit ihrem Gerede von sozialer Gerechtigkeit täuschen. Der 
großen Mehrheit der arbeitenden und erwerbslosen Bevölkerung ist klar, 
dass die SPD eine Politik gegen sie und für die Banken und Konzerne 
betreibt. Mit der Demonstration vom 1. November hat sich der riesige 
Unmut gegen die Regierung erstmals massenhaft auf der Straße 
artikuliert. Dieser ist mit der Einführung der Maßnahmen der Agenda 2010 
zum 1. Januar weiter gewachsen, da immer mehr Menschen erfahren, dass 
ihr Lebensstandard sinkt. Die GewerkschaftsführerInnen geraten mehr und 
mehr unter Druck, ihren Schmusekurs mit Schröder aufzugeben und sehen 
sich gezwungen für den 3. April zu Großdemonstrationen gegen Sozialabbau 
aufzurufen. Auf Gewerkschaftskongressen wird Schröder ausgepfiffen und 
immer mehr GewerkschafterInnen wollen keine Rücksicht mehr auf die SPD 
nehmen. Das hat die Partei in eine tiefe Krise gestürzt: in Umfragen 
liegt sie noch bei 24 Prozent Wählerunterstützung, 125.000 Mitglieder 
hat die Partei seit dem Regierungsantritt 1998 verloren, alleine im Jahr 
2003 waren es 43.000. Immer mehr enttäuschte SPD-Mitglieder sehen keine 
Möglichkeiten in der Partei noch etwas zu bewirken. Die Berliner Zeitung 
veröffentlichte am 7. Februar einige Zitate aus SPD-Austrittsschreiben, 
die die Wut und Verbitterung der Mitglieder ausdrücken:

„Schröder ist zum schlimmsten Kohl aller Zeiten mutiert, der Rest seines 
Haufens bsteht aus austauschbaren Karrieristen, die die Ideen von 
Brandt, Wehner oder anderen aufrechten Sozialdemokraten über Bord 
geworfen haben.“

„Unsere Ulla Schmidt ist mir zum Brechmittel geworden.“

„Auf Grund der aktuellen Krankenkassen- und Rentenreform bin ich als 
Kleinrentner nicht mehr in der finanziellen Lage, den 
SPD-Mitgliedsbeitrag zu zahlen.“

„Ich will nicht mehr in Gesprächen und bei allerlei Anlässen als 
Punchingball stellvertretend für Schröder, Müntefering und den Rest der 
Junta in Berlin herhalten.“

Nun führte selbst im Inhalt milde Kritik von SPD-Landesfunktionären  zu 
einer Situation, in der die Luft für Schröder zu dünn wurde. Der Wechsel 
zu Müntefering ist ein verzweifelter Versuch, die Partei ruhig zu 
stellen und den KritikerInnen den Focus ihrer Kritik zu nehmen. Ein 
Politikwechsel wird dadurch selbstverständlich nicht eingeleitet. Und 
auch eine Verlangsamung des "Reformtempos" wäre nicht Folge dieser 
Personalentscheidungen, sondern des Widerstandes in der Arbeiterklasse. 
Doch damit ist kaum zu rechnen, denn Schröder und Müntefering beschwören 
ihre politische Übereinstimmung. Auch der neue Generalsekretär Klaus-Uwe 
Benneter ist alles andere als ein Linker, auch wenn ihm die CSU dieses 
Image andichtet. Er ist ein Vertrauter Schröders und steht voll und ganz 
hinter der Agenda 2010. Als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses 
zum Berliner Bankenskandal und als Vorsitzender des "Lügen-Ausschusses" 
im Bundestag hat er sich nicht gerade als kritischer Geist hervorgetan.
Dementsprechend ist diese Maßnahme auch ein zum Scheitern verurteilter 
Versuch die SPD aus dem Tief zu holen. Die arbeiterfeindliche Politik 
wird fortgesetzt und die SPD-Feindlichkeit von ArbeiterInnen wird weiter 
steigen.
Die SPD-Landesfürsten haben mit ihrer Kritik auf die Stimmung in den 
SPD-Ortsvereinen und in der Arbeiterklasse reagiert und versuchen sich 
etwas sozialer als die Bundesregierung zu geben, um sich überhaupt eine 
Chance bei den WählerInnen zu erlügen und ihre Posten zu behalten. Aber 
im Kern vertritt die gesamte SPD – von Schröder bis zu sogenannten 
Linken wie Andrea Nahles – dieselbe Politik. Dementsprechend beschämend 
fielen auch die Reaktionen dieser Linken aus: sie zeigten sich zufrieden 
mit dem Rücktritt, hoffen nun darauf, dass sich in der SPD die Reihen 
schließen, beschwören Münteferings Gespür für die „Seele der Partei“ und 
schweigen zu politischen Fragen. Und wenn der saarländische 
SPD-Landeschef Heiko Maaß die Einführung einer Vermögensteuer und die 
Erhöhung der Erbschaftsteuer fordert, ist das nicht mehr als 
Linkspopulismus. Denn diese bescheidenen Maßnahmen alleine würden nicht 
die Geldmittel aufbringen, die nötig sind um die Krise der 
Staatsfinanzen zu lösen. Er fordert nicht einmal eine drastischere 
Besteuerung von Gewinnen und Vermögen, eine Maßnahme die zwar nicht die 
Krise des kapitalistischen Systems lösen würde, aber ein Schritt in die 
Richtung wäre, die nötigen Mittel für Sozialleistungen und die Schaffung 
von Arbeitsplätzen zu mobilisieren. Einen Bruch mit der Politik für 
Banken und Konzerne haben die „SPD-Linken“ nicht im Sinn. Deshalb 
unterstützen sie auch die Proteste und Streiks von Beschäftigten und 
Erwerbslosen gegen Agenda 2010 und die Angriffe der Arbeitgeber nicht. 
Das gilt im übrigen auch für Oskar Lafontaine, der sich aus der 
gemütlichen Position des politischen Kommentators gerne als 
Globalisierungskritiker und Anwalt des kleinen Mannes präsentiert, im 
Endeffekt aber nur eine andere kapitalistische Krisenverwaltung 
vorschlägt. An der Regierung würde er unter den gegenwärtigen 
Bedingungen genauso schnell bei Sozialkürzungen landen, wie die PDS in 
Berlin dies tat – oder ganz schnell wieder zurücktreten. Denn unter den 
Bedingungen der kapitalistischen Krise kann nur eine – auf der 
Mobilisierung der Arbeiterklasse basierende – antikapitalistische 
Politik einen Ausweg aus der Spirale von Lohn- und Sozialkürzungen 
aufzeigen.

Der Rücktritt Schröders ist ohne Zweifel ein Zeichen der Krise und damit 
der Schwäche. Das Fragezeichen hinter dem Überleben der Regierung bis 
2006 ist größer geworden und niemand wird sich wundern, wenn Schröder 
nach der in diesem Jahr zu erwartenden Zunahme von Demonstrationen und 
Streiks, sowie einer der 14 Wahlniederlagen das Handtuch wirft. Doch die 
deutschen Kapitalisten drängen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auf 
einen Regierungswechsel, schließlich hat Rot-Grün ihnen fünfeinhalb 
Jahre gute Dienste geleistet und einen Krieg nach innen (gegen die 
eigene Arbeiterklasse) und nach außen (mit Militäreinsätzen in aller 
Welt) begonnen, der unter Kohl noch undenkbar gewesen wäre. Deshalb auch 
keine offensive Kampagne seitens der CDU/CSU, der Arbeitgeberverbände 
und der kapitalistischen Medien für Neuwahlen. Aus ihrer Sicht soll die 
SPD erst einmal all ihr Pulver verschießen und den Widerstand der 
Gewerkschaften so lange wie möglich bremsen. Danach wird eine 
CDU/CSU-geführte Regierung, möglicherweise auch eine Große Koalition, 
versuchen das Tempo der Angriffe auf soziale Sicherung, Löhne und 
Arbeitnehmerrechte weiter zu erhöhen. Wann dieser Zeitpunkt gekommen 
sein wird, ist nicht vorher zu sagen.
Schröders Rücktritt drückt aber auch ein anderes Phänomen aus. Er 
versucht sich als Regierungschef von seiner eigenen Partei unabhängiger 
zu machen. Die Einschätzung in bürgerlichen Medien, er sei nun „Kanzler 
von Münteferings Gnaden“ trifft die Lage nicht. Es handelt sich eher um 
eine Arbeitsteilung bei der Müntefering dem Kanzler den Rücken frei 
halten soll, damit er seine sogenannte „Reformpolitik“ fortsetzen kann. 
Es ist natürlich möglich, dass Schröder auch als Kanzler zurücktreten 
muss und von Müntefering beerbt würde, das würde aber früher oder später 
zu einem Regierungswechsel führen. Der Rücktritt ist auch der Versuch 
die Rolle der SPD für die Regierungspolitik zu verkleinern. Dahinter 
steckt der Wunsch eine Partei mit einem gewissen Eigenleben zu einer 
Wahlmaschine zu machen, wie es die Demokraten in den USA sind. Dass die 
SPD auf dem besten Weg dahin ist zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass 
die SPD-Mitglieder aus den Medien erfahren, wer der neue 
Parteivorsitzende wird. Demokratische Debatten und Entscheidungsprozesse 
gehören in der SPD schon lange der Vergangenheit an.

Die Enttäuschung mit der SPD ist riesengroß, gleichzeitig fürchten viele 
ArbeiterInnen, dass eine Merkel- oder Stoiberregierung noch drastischere 
Angriffe auf den Lebensstandard und die Rechte der arbeitenden 
Bevölkerung durchführen würde. Dieses Schreckgespenst wird von den 
Gewerkschaftsführern und der SPD ins Feld geführt, um Opposition gegen 
die Schröderregierung zu bremsen. Davon dürfen sich GewerkschafterInnen 
und alle von der unsozialen Politik Betroffene aber nicht einschüchtern 
lassen. Sollte die Schröderregierung durch eine Massenbewegung gegen 
Lohn- und Sozialraub gestürzt werden, hätte jede darauf folgende 
Regierung eine denkbar schlechte Ausgangsposition, um weitere Angriffe 
durchsetzen zu können. Und die Verantwortung für eine Rückehr der 
CDU/CSU an die Regierung läge bei der SPD. Die Kapitalisten haben heute 
viele Parteien, die eine Regierung in ihrem Interesse bilden können. 
ArbeiterInnen, Erwerbslose und Jugendliche haben heute keine starke 
Partei, die eine Regierung in ihrem Interesse bilden könnte. Das lässt 
nur eine Schlussfolgerung zu: eine neue Partei von ArbeitnehmerInnen, 
Erwerbslosen und Jugendlichen ist nötig. Das Potenzial für eine solche 
Partei in der Arbeiterklasse ist riesig, denn die wenigsten vertrauen 
den etablierten Parteien noch. Wird jedoch keine starke linke 
Alternative aufgebaut, werden früher oder später die neofaschistischen 
und rechtsextremen Kräfte wieder profitieren.
Um dieses Potenzial zu nutzen, müssen die Gewerkschaften in die 
Offensive gehen, ihre Mitglieder gegen die Unternehmeroffensive 
mobilisieren, mit der SPD brechen und die Gründung einer solchen Partei 
mit voran treiben. Dann könnten hunderttausende dafür mobilisiert 
werden. Es darf aber nicht darauf gewartet werden, dass die 
Gewerkschaftsführungen Schritte in diese Richtung ergreifen. Linke 
GewerkschafterInnen müssen in ihren Organisationen die Frage einer neuen 
Partei aufwerfen. Linke Organisationen müssen zusammen mit den 
AktivistInnen der sozialen Bewegungen und GewerkschafterInnen 
kämpferische Wahlbündnisse bilden. Die SAV beteiligt sich an solchen 
Wahlbündnissen (aktuell zum Beispiel in Aachen, Hamburg, Köln, 
Stuttgart) und hat vorgeschlagen einen bundesweiten Kongress dieser 
Bündnisse durchzuführen.
Wenn eine neue Arbeiterpartei aber nicht den Weg von SPD, Grünen und PDS 
gehen will, braucht sie ein anderes Programm und andere Prinzipien. Sie 
dürfte sich nicht auf den Boden der kapitalistischen Marktwirtschaft 
stellen und den "Ausgleich" zwischen abhängig Beschäftigten und 
Kapitalbesitzern anstreben. Sie müsste konsequente Interessenvertretung 
für die Lohnabhängigen und Erwerblosen betreiben. Sie müsste 
größtmögliche innerparteilich Demokratie zulassen, ihre FunktionärInnen 
müssten jederzeit wähl- und abwählbar sein und dürften nicht mehr 
verdienen als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn, um zu 
verhindern, dass sie durch Bundestagsmandate und andere Posten ihre 
eigene soziale Frage im Rahmen des Kapitalismus lösen.
Um dies zu ermöglichen müsste sie ein sozialistisches Programm und eine 
sozialistische Praxis annehmen und ihre Tagespolitik mit dem Ziel der 
Abschaffung der kapitalistischen Herrschaft in Deutschland und weltweit 
verbinden.

Sascha Stanicic (SAV-Bundessprecher)
9.2.2004




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