[SAV-newsletter] Stellungnahme der SAV zur Debatte über eine Linkspartei
SAV Zentrale
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Mi Mär 24 09:21:51 CET 2004
Für eine neue Partei im Interesse von ArbeitnehmerInnen, Jugendlichen
und sozial Benachteiligten
Anfang März wurden in der Öffentlichkeit zwei überregionale Initiativen
für linke Wahlalternativen bekannt: Die wahlpolitische Alternative von
führenden ver.di-Mitgliedern und der Vorstoß „Arbeit und soziale
Gerechtigkeit“, der von bayrischen IG Metall-Funktionären ausgeht. Eine
neue linke Wahlalternative auf bundesweiter Ebene? Die SAV ist der
Ansicht: Das ist verdammt nötig!
Die politische und soziale Lage in Deutschland schreit nach einer neuen
Interessenvertretung für ArbeiterInnen und Jugendliche. Es ist jetzt
genau ein Jahr her, dass Kanzler Schröder seine Agenda 2010 verkündet
hat. Diese Agenda 2010 bedeutet für Lohnabhängige, Erwerbslose,
RentnerInnen und Jugendliche einen gnadenlosen Ausverkauf sozialer
Rechte. In seiner ersten Amtszeit knüpfte der „Genosse der Bosse“ nach
„Anlaufschwierigkeiten“ nahtlos an die Politik der Kohl-Regierung an.
Zum Beginn der zweiten Legislaturperiode folgt auf die Demontage der
sozialen Sicherungssysteme unter Rot-Grün jetzt ein Konfrontationskurs,
mit dem die vollständige Zerschlagung des so genannten Sozialstaats und
die Abschaffung von erkämpften Rechten ins Visier genommen werden.
Schröder wurde von den Konzernchefs auf Linie getrimmt. Als willfähriger
Diener des deutschen Kapitals, das im verschärften kapitalistischen
Konkurrenzkampf die Nase vorn haben will, gibt der Kanzler wieder, was
die Hundts und Rogowskis hören möchten: Europa (natürlich mit
Deutschland an der Spitze) soll bis 2010 „zum dynamischsten
Wirtschaftsraum“ werden. Wirtschaftliche und militärische Aufrüstung
sind angesagt. Frühkapitalistische Verhältnisse drohen.
Diese neoliberale Offensive muss gestoppt werden. Dafür ist eine
Auseinandersetzung in den Gewerkschaften für einen grundlegenden
Kurswechsel nötig. Dafür braucht es aber auch eine eigenständige
politische Kraft, die konsequent für die Interessen der arbeitenden und
erwerbslosen Bevölkerung kämpft – eine neue Arbeiterpartei.
Zwei Initiativen: „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ und Wahlpolitische
Alternative 2006
Für den Ersten Bevollmächtigten der IG Metall in Schweinfurt, Klaus
Ernst, hat sich die SPD mittlerweile „in eine Partei der sozialen Kälte
verwandelt.“ Vor einem Jahr organisierte Ernst einen Streik von SKF,
Kugelfischer und anderen Metallbetrieben gegen die Agenda 2010. Auf dem
außerordentlichen IGM-Gewerkschaftstag im letzten Sommer forderte er,
den Schmusekurs der DGB-Spitze gegenüber der SPD aufzugeben. Im März
diesen Jahres gehörte Klaus Ernst nun zu den Initiatoren eines Aufrufs
„Arbeit und soziale Gerechtigkeit“. Darin heißt es, dass die SPD „sich
zur Hauptakteurin des Sozialabbaus und der Umverteilung von unten nach
oben entwickelt“ habe und zu einem „Kanzlerwahlverein“ mutiert sei.
Neben Klaus Ernst sind die Ersten Bevollmächtigten Peter Vetter
(Kempten) und Thomas Händel (Fürth), zwei IGM-Vorstandsmitglieder, Gerd
Lobboda und Günther Schachner, sowie Herbert Schui von der Hochschule
für Wirtschaft und Politik an dieser Initiative beteiligt. Bis auf eine
Ausnahme sollen alle Initiatoren SPD-Mitglieder sein und der Partei
zwischen 30 und 43 Jahren angehören. Nach eigenen Angaben treten sie für
ein Bündnis mit allen politischen Kräften und Personen ein, die sich für
die Erhaltung und den Ausbau des Sozialstaats und für ein sozial gerecht
finanziertes Gemeinwesen stark machen. Im Aufruf heißt es weiter: „Aus
diesem Bündnis könnte eine bei der nächsten Bundestagswahl wählbare
soziale Alternative entstehen. Diese mögliche Entwicklung schließen wir
ausdrücklich ein.“ Laut Klaus Ernst könnte das Projekt „durchaus in die
Gründung einer neuen politischen Partei münden.“ Auf ihrer
Pressekonferenz am 19. März wurde das allerdings relativiert. Zunächst
wollen sie auf die SPD "Druck ausüben, zuvorderst auf die
SPD-Regierungspolitik". "Wenn sich nichts ändern lässt", so der Fürther
IGM-Funktionär Thomas Händel, "schließen wir die Option nicht aus, zu
gegebener Zeit Partei zu werden."
Neben dem Aufruf „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ peilt eine weitere
Initiative ebenfalls eine „wahlpolitische Alternative“, ein mögliches
linkes Wahlbündnis für die Bundestagswahl 2006 an. Zu diesem Kreis
gehören Mitglieder und Ex-Mitglieder von SPD, PDS und Grünen, sowie
Linksintellektuelle und ver.di-Funktionäre, namentlich ver.di-Sekretär
Ralf Krämer aus der wirtschaftspolitischen Abteilung von ver.di, Jörg
Bischoff, Redakteur der Monatszeitschrift Sozialismus, und Frieder Otto
Wolf, früherer Europaabgeordneter für die Grünen. Am 5. März kamen gut
30 Akteure zu einem Strategiegespräch im Berliner DGB-Haus zusammen.
Begründet wird dieser Schritt auf der Website www.wahlalternative.de
folgendermaßen: „Wahlergebnisse und Mitgliederentwicklung der
Sozialdemokratie zeigen, dass viele BürgerInnen sich von der Politik der
Agenda 2010 getäuscht fühlen. (...) Politische Resignation und
Passivität bringen uns dem unverzichtbaren Politikwechsel im Interesse
der Mehrheit der Bevölkerung nicht näher, sondern stärken nur
diejenigen, die noch radikaler als Rot-Grün soziale Errungenschaften
demontieren wollen.“ In einer "Klarstellung zu Schill" vom 11. März
heißt es: "Wir wollen nicht Sündenböcke für soziale Probleme
verantwortlich machen, sondern soziale Ungerechtigkeit bekämpfen."
Angekündigt wird ein bundesweites Netzwerk zur Diskussion einer
Wahlalternative.
In dem Positionspapier „Für eine wahlpolitische Alternative 2006“ ist
die Rede davon, dass „den vielen Betroffenen des neoliberalen Umbaus
(...) ebenso eine parlamentarisch-politische Repräsentanz“ fehlt „wie
der sich entwickelnden sozialen Bewegung und außerparlamentarischen
Opposition oder den Gewerkschaften.“ Es wird eingeschätzt, dass das
Potenzial für eine solche Kraft „deutlich über das bisherige links von
SPD und Grünen hinausgeht und in erheblichen Teilen auch gar kein im
Selbstverständnis linkes Potenzial ist.“ „Die zentralen Attribute, die
mit dem Projekt verbunden werden müssen, sind: sozial, Gerechtigkeit,
Frieden, Arbeit, offener Bildungszugang, Alternative, aber auch
Fortschritt und Zukunft für alle.“
Ist eine Linkspartei nötig?
In dem Positionspapier „Für eine wahlpolitische Alternative 2006“ wird
richtigerweise festgestellt: „Dass es zu einer erneuten grundlegenden
Umorientierung der SPD oder Grünen im Sinne einer sozial orientierten
Politik gegen den Neoliberalismus kommen kann, ist unrealistisch.“ Im
Bezug auf die PDS heißt es, sie habe sich „insbesondere durch ihre
Regierungsbeteiligung in Berlin zusätzlich desavouiert“ (bloßgestellt).
„Sie erscheint sehr auf sich selbst und auf Mitregieren fixiert.“
Wohl wahr. Um es auf den Punkt zu bringen: Die SPD hat vollständig die
Seiten gewechselt. Die PDS ist kein Angebot für eine kämpferische,
antikapitalistische geschweige denn sozialistische Politik. Die
Unternehmer haben heute mehrere Parteien; ArbeiterInnen, Jugendliche und
sozial Benachteiligte haben derzeit keine eigene politische
Interessenvertretung.
Höchste Zeit, eine neue politische Kraft für die arbeitende Bevölkerung
aufzubauen. Die Sozialistische Alternative tritt seit einigen Jahren für
die Schaffung einer neuen Arbeiterpartei ein. Um diese Idee zu
verbreiten und den Kampf gegen Arbeitsplatz- und Sozialabbau politisch
weiter zu bringen, haben SAV-Mitglieder die Gründung linker
Wahlbündnisse auf lokaler Ebene unterstützt, selbst angestoßen oder
eigenständig mit unserem Programm und der Forderung nach einem Aufbau
einer neuen Arbeiterpartei kandidiert. Außerdem haben wir in den
Gewerkschaften und in Sozialbündnissen für Schritte in diese Richtung
argumentiert.
Eine neue politische Interessenvertretung für ArbeiterInnen und
Jugendliche würde helfen, verschiedene Kämpfe miteinander zu verbinden,
Erfahrungen auszutauschen und den Widerstand gegen Sozialkürzungen zu
stärken. Das könnte dem Protest einen Ausdruck verschaffen, diesen auf
die politische Ebene tragen und im Fall von Wahlerfolgen dazu beitragen,
dass die Protestbewegung in den Parlamenten ein Sprachrohr bekommt. Eine
solche politische Neuformation könnte auch ein bedeutendes Forum für
politische Debatten zu Programm und Perspektiven bieten. Darüber wäre es
möglich, Ideen für eine grundlegende Veränderung von Wirtschaft und
Gesellschaft in den Klassenkämpfen zu verankern. In den neunziger Jahren
erschwerte die TINA-Propaganda Gegenwehr („There Is No Alternative“,
Maggie Thatcher). Die Entwicklung einer gesellschaftlichen Alternative
würde dagegen heute Kämpfe ermutigen.
SPD – Für ArbeiterInnen zurückzugewinnen?
Die Initiative "Arbeit und soziale Gerechtigkeit" erklärte auf ihrer
Pressekonferenz am 19. März, dass die SPD unter Schröder sich zur
"Hauptakteurin des Sozialabbaus und der Umverteilung von unten nach
oben" entwickelt habe. Ein Schlüsselerlebnis sei für die langjährigen
Parteimitgliedern gewesen, wie mit den Regionalkonferenzen im
vergangenen Jahr im "Top-Down-Stil" die Agenda 2010 "durchgestellt"
worden sei. Dennoch eierten sie bei der Frage, ob ein klarer Bruch der
Gewerkschaften mit der SPD und eine neue Parteigründung nötig ist,
herum. Im Hinblick auf die drohenden Parteiausschlüsse erklärte Thomas
Händel, Erster Bevollmächtigtet der IG Metall Fürth: "Wir wollen es
wissen von der Partei, ob Sozialstaatler in ihr keinen Platz mehr haben."
Ihre Haltung erinnert an die britische Kampagne "Reclaim Labour"
(gemeint ist damit, Labour für die ArbeiterInnen und für die
Gewerkschaftsbewegung zurückzuerobern). Obwohl dort mehrere
Gewerkschaftsführer dahinter stehen, hält Tony Blair am Kürzungsmassaker
und an der Kriegspolitik fest beziehungsweise gelingt es nicht, Blair
und Co zu stürzen und einen grundlegenden Kurswechsel einzuleiten. Vor
einem Monat wurde die Eisenbahngewerkschaft RMT aus New Labour
ausgeschlossen, nachdem sie entschied, es regionalen Gliederungen frei
zu stellen, die (in Großbritannien traditionell üblichen)
Beitragszahlungen seitens der Gewerkschaft an Labour weiterhin zu bezahlen.
Eher wird wahrscheinlich ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen, als dass
New Labour oder Schröders SPD noch einmal für die arbeitende Bevölkerung
zurückzugewinnen sein werden. Diese Parteien haben sich in durch und
durch kapitalistische Parteien umgewandelt. Die SPD verlor seit 1990 ein
Drittel ihrer Mitglieder, unter Schröder forcierte sich der
Mitgliederschwund dramatisch: Seit dem Regierungsantrtt 1998 traten
125.000 aus, im Januar 2004 allein 12.000. Auf Wahlebene wenden sich
ArbeiterInnen scharenweise von der SPD ab. In Umfragen dümpelt die SPD
bei unter 30 Prozent vor sich hin. Außerdem haben sich die
Kräfteverhältnisse fundamental gewandelt: Die Jusos sind nur noch ein
Karrieresprungbrett, die AfA nicht mehr als einflusslose Phrasendrescher
in Sachen "sozialer Gerechtigkeit" und die Parlamentarische "Linke"
völlig auf Parteilinie. Auch Schröders Rücktritt vom Parteivorsitz wird
keinen Wechsel einleiten. Müntefering und Co stehen ebenfalls
geschlossen hinter der Agenda 2010. Schröder, Müntefering und der neue
Generalsekretär Benneter wurden in den letzten Wochen nicht müde zu
betonen, dass keine wirklichen Abstriche an der Agenda 2010 denkbar sind.
Rot-Grün - das kleinere Übel?
Auf dem AfA-Kongress der SPD im März hielt der Delegierte Klaus Schüller
aus Eisenach Franz Müntefering vor: „Wir können nicht argumentieren: Ihr
könnt die CDU nicht wählen, die amputiert euch zwei Beine. Wählt die
SPD, die amputiert euch nur eins.“
CDU/CSU und FDP kommt die Aufgabe zu, Rot-Grün im Interesse der
Kapitalisten von rechts unter Druck zu setzen. So preschen sie mit der
Forderung nach Kopfpauschale in der Gesundheitspolitik oder nach
weiteren drastischen Spitzensteuersenkungen vor. Rogowski, Chef des
Bundesverbands der Deutschen Industrie, und andere aus dem
Unternehmerlager sprechen sich heute für die Fortsetzung der
Schröder-Regierung aus – solange, bis sie sich aus ihrer Sicht
verbraucht hat. Vom Standpunkt der arbeitenden Menschen aus hilft es
allerdings wenig, sich damit zu trösten, dass Ulla Schmidts
Gesundheitspolitik nur ein Bein amputieren möchte (abgesehen davon, dass
ein größerer Unterschied zu Union und FDP gar nicht mehr existiert).
Sowohl was Umfang als auch was das Tempo des Sozialabbaus angeht,
übertreffen Schröder und Co die Kohl-Regierung. Heute erleben wir, dass
jede neue Regierung von etablierten Parteien nicht nur an der
Vorgänger-Regierung anknüpft, sondern noch was drauf setzt.
Angeblich stärkt eine linke Kandidatur nur die Rechte? Darum
argumentieren Teile des heutigen Gewerkschaftsapparates zum Beispiel
dafür, den Schröders und Fischers als „kleineres Übel“ zähneknirschend
weiterhin die Stimme zu geben. Sollen wir für dumm verkauft werden? Eine
Stimme für rechte Politik stärkt rechte Politik – nichts anderes ist
eine Stimme für Schröder oder Fischer. Eine Stimme für eine linke
Alternative dagegen stärkt linke Politik.
Die Erfolgsaussichten eines linken Wahlbündnisses sind davon abhängig,
in wie weit der Widerstand in den Betrieben und Stadtteilen gestärkt
wird. Um wirkliche Veränderungen zu erreichen, muss eine mächtige
Protestbewegung von den Lohnabhängigen und anderen vom Sozialkahlschlag
Betroffenen aufgebaut werden. Würde eine SPD-geführte Regierung durch
solch eine Bewegung gestürzt, hätte es jede neue Regierung schwieriger,
die Rotstiftpolitik fortzusetzen.
Welche Schritte sind jetzt nötig?
Für Sonntag, den 6. Juni plant die Wahlpolitische Alternative 2006 eine
Konferenz. Für sie sollte offensiv mobilisiert werden. Kämpferische
Vertrauensleute, VertreterInnen der Gewerkschaftslinken, AktivistInnen
sozialer Bewegungen, GlobalisierungskritikerInnen und politisch
organisierte Kräfte auf der Linken sollten angesprochen werden. Zentral
wäre es, eine Mobilisierungskampagne mit dem Ziel zu starten, auch ganz
neue Schichten zu erreichen, die bislang nicht politisch aktiv waren.
Zur Vorbereitung dieser Konferenz sollten bei einem offenen Treffen so
schnell wie möglich mehr Kräfte einbezogen werden. Die SAV will sich
daran aktiv beteiligen und einbringen.
Mit den Initiatoren des zweiten bekannten Aufrufs, „Arbeit und soziale
Gerechtigkeit“, sollte ebenfalls eine gemeinsame Vorbereitung der
Konferenz angestrebt werden. Im Vorfeld dieser bundesweiten
Zusammenkunft sollten lokale und regionale Vorkonferenzen angeboten
sowie örtliche Strukturen gebildet werden. Darüber hinaus wäre es
wichtig, Diskussionen zu einer linken Wahlalternative oder einer neuen
Arbeiterpartei, Diskussionen zu Charakter und Programmatik, in
gewerkschaftlichen Strukturen und Sozialbündnissen anzustoßen. Auch auf
der für Mai angesetzten Perspektivkonferenz von Attac und ver.di sollte
die Frage einer neuen Partei aufgeworfen werden.
Die Debatten über Kandidaturen und Parteistrukturen sollten nicht
losgelöst von der Protestbewegung gegen die Agenda 2010 und den
betrieblichen und lokalen Auseinandersetzungen geführt werden. Es gibt
die Chance, zehntausende von ArbeiterInnen und Jugendlichen anzuziehen –
aber nur dann, wenn die Verbindung zu den akuten Problemen und aktuellen
Konflikten gezogen wird.
Warum sind SPD, PDS und Grüne gescheitert?
Wir leben in einer Klassengesellschaft. Auf der einen Seite stehen
diejenigen, denen das große Geld, das Kapital, die Banken und die
Fabriken gehören. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die nichts
weiter besitzen als ihre Ware Arbeitskraft, die sie auf dem Markt
verkaufen müssen. Auch wenn die Zahl der IndustriearbeiterInnen in den
vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen ist, nahm die Arbeiterklasse
zahlenmäßig stark zu. Immer mehr Reichtum konzentriert sich in immer
weniger Händen. Die "Mittelklasse", die Klasse der kleinen
Selbstständigen, Handwerker und Bauern, ist enorm geschrumpft.
Jede Partei muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht. SPD, PDS
und Grüne haben sich entschieden. Sie sind nicht bereit, sich mit einem
Deutsche-Bank-Chef Ackermann anzulegen, der letztes Jahr elf Millionen
Euro kassiert hat. SPD, PDS und Grüne haben den Frieden mit diesem
System gemacht. Sie stellen Privateigentum, Konkurrenz und Profitstreben
nicht in Frage. Solange die Gesellschaft jedoch in Klassen gespalten
ist, solange die Kapitaleigner ihren Profit über die Aneignung des von
der Arbeiterklasse geschaffenen Reichtums erzielen, solange werden
Lohnabhängige ausgebeutet. In Zeiten kapitalistischer Krise verschärft
sich diese Ausbeutung.
Die SPD hat sich seit Mitte der neunziger Jahre in eine durch und durch
bürgerliche Partei umgewandelt. Als Arbeiterpartei gegründet, änderte
sie spätestens zum Zeitpunkt der Unterstützung des imperialistischen
Kriegs 1914 entscheidend den Charakter: von einer Arbeiterpartei in eine
Partei, in der die Basis und Anhängerschaft proletarisch blieb, an deren
Spitze sich aber eine bürgerliche Führung durchsetzte. Auf Grund dieses
Doppelcharakters konnte die Partei jahrzehntelang von ArbeiterInnen,
Angestellten und Beamten zumindest noch unter Druck gesetzt werden. Da
diese traditionelle Basis der SPD heute weggebrochen ist, konnten
Schröder, Müntefering und Co ihre arbeiterfeindliche Politik ohne
größeren Widerstand in den eigenen Reihen forcieren. Die PDS ist eine
(fast ausschließlich ostdeutsche) reformistische Partei, die kaum in den
Betrieben verankert ist. Wegen der Schwäche der Parteilinken konnte die
Parteispitze um Lothar Bisky schnell in die Fußstapfen
rechtssozialdemokratischer (Regierungs-)Politik treten. Für die Grünen
war die Arbeiterbewegung von Anfang an ein Buch mit sieben Siegeln.
In der Erklärung der Wahlalternative wird die Notwendigkeit betont, "ein
breites Spektrum der Bevölkerung" anzusprechen, im Kern „die
Arbeitnehmermilieus, die auch die Hauptbasis für Rot-Grün sind
beziehungsweise waren." Diese Herangehensweise ist begrüßenswert.
Allerdings wird sie am Schluss wieder ein Stück weit relativiert: „Es
bedarf eines neuen Anlaufs der politischen Artikulation und Formierung
eines alternativen gesellschaftlichen Blocks von Arbeit und
Wissenschaft, Bewegungen und Kultur gegen den herrschenden Block des
Kapitals und des Neoliberalismus.“ Das klingt danach, dass diejenigen,
die von der Kürzungsorgie direkt betroffen sind, Fokus aber nicht
Hauptakteure eines neuen Bündnisses sein sollen.
Als die SPD vor hundert Jahren immer mehr Parlamentsposten erobern
konnte, geriet die Partei immer mehr unter Druck durch bürgerliche
Kräfte und war ideologisch dem Einfluss der herrschenden Klasse
ausgesetzt. Mangels Diäten bekamen damals diejenigen erheblich mehr
Gewicht, die auf Grund höherer Einkommen die Parlamentsarbeit
finanzieren konnten. Damit einhergehend bekamen die hauptamtlichen
Funktionäre der Partei das Vierfache eines durchschnittlichen
Arbeiterlohns. Die wachsenden Privilegien der Parteispitze führten dazu,
dass diese sich erst materiell, dann politisch immer mehr von denen
entfernte, die sie eigentlich zu vertreten hatten. Damit eine neue
Arbeiterpartei nicht den Weg einer zweiten SPD einschlägt, gilt es in
Theorie und Praxis konsequent "Partei" für die arbeitende Bevölkerung zu
ergreifen. Außerdem muss neben anderen Maßnahmen auch über eine
Begrenzung der Einkommen auf ein durchschnittliches Arbeitnehmergehalt
von vornherein sichergestellt werden, dass Parteifunktionäre nicht
abheben können.
Für eine kämpferische Politik
Bei der Hamburger Bürgerschaftswahl im Februar kam das linke Wahlbündnis
Regenbogen nur auf enttäuschende 1,1 Prozent. Das ist nicht auf einen
angeblichen Rechtsruck zurückzuführen. Im Gegenteil. Bei der
gleichzeitig durchgeführten Volksabstimmung über den Verkauf der
Krankenhäuser votierten von den 800.000 Beteiligten 76 Prozent gegen
Privatisierung. Das Regenbogen-Ergebnis zeigt bloß, dass eine linke
Kandidatur nicht per se Zuspruch findet. Leider hat Regenbogen
mehrheitlich einen linksintellektuellen Szene-Wahlkampf geführt.
Regenbogen war in den meisten Stadtteilen nicht präsent. Vor allem wurde
Regenbogen nicht als Kampfangebot gesehen. Die große Mehrheit von
ArbeiterInnen, Jugendlichen und sozial Benachteiligten ist heute bei
einer neuen Formation sehr skeptisch. Zu oft wurden sie verraten und
verkauft. Warum soll ein neues Bündnis oder gar eine neue Partei anders
sein?
Vertrauen muss erarbeitet, über gemeinsame Kämpfe erworben werden. Jede
linke Kandidatur sollte Beschäftigte, denen die Entlassung droht, oder
ErzieherInnen und Eltern, die von der Schließung einer Kita betroffen
sind, ansprechen, ein Kampfprogramm entwickeln und Gegenwehr
organisieren. Wie müsste sich eine neue politische Interessenvertretung
von den existierenden Parteien konkret unterscheiden? Nehmen wir zum
Beispiel die drohende Schließung des Bombardier-Werkes in
Halle-Ammendorf: Am Anfang sollte Unterstützungs- und
Öffentlichkeitsarbeit für die 800 von Entlassung bedrohten KollegInnen
stehen. Mit regelmäßigen Besuchen vor Arbeitsbeginn, mit Infoständen in
der Umgebung und mit Unterschriftensammlungen und Plakatieraktionen für
den Erhalt könnte begonnen werden. Eine reale Hilfe wäre die Gründung
eines Solidaritätskomitees. Mit Beschäftigten, Vertrauensleuten und IG
Metall-AktivistInnen sollte dann wirksamer Widerstand gegen die
Schließung diskutiert werden. Anträge und Zusammenarbeit mit anderen
kämpferischen Vertrauensleuten und Gewerkschaftsmitgliedern innerhalb
der IG Metall würden dann anstehen. Im Fall eines Streikes oder einer
Betriebsbesetzung müssten Streikposten und Unterstützungsaktionen wie
Geldsammlungen für die Streikenden mit organisiert werden. Kontakt und
Austausch mit den anderen 34 Bombardier-Werken in Europa, allen voran
mit den ebenfalls von Schließung bedrohten sechs Betrieben, wären nötig.
Rundreisen, öffentliche Veranstaltungen, eine koordinierte
Streikbewegung, möglicherweise verbunden mit einer zentralen
Großdemonstration wären Kampfmaßnahmen, die vorgeschlagen und mit
organisiert werden müssten. Aufgabe einer neuen politischen
Interessenvertretung wäre es natürlich auch, gemeinsam mit den
Beschäftigten Alternativen zur Stilllegung zu entwickeln. Da Bombardier
zur Schienenfahrzeugindustrie gehört, würde es in diesem Fall um ein
Programm zum Ausbau des Bahnverkehrs gehen. Hier würden sich Fragen von
Umwelt- und Energiepolitik stellen, von der Umstellung der
Autoproduktion auf Güter des Nah- und Fernverkehrs, von Weiterbildung
und Ersatzarbeitssplätzen, von Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn-
und Personalausgleich sowie von Rückverstaatlichung der Bahnindustrie in
öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung. Eine
linke Kandidatur oder Partei wäre gefordert, dazu Positionen zu
entwickeln und diese gemeinsam mit den MetallerInnen und allen von der
Unternehmerwillkür Betroffenen zu diskutieren. Eine solche
Herangehensweise wäre meilenweit entfernt von der Politik durch SPD,
Grüne und PDS. Ausgehend von solchen Anstrengungen sollten dann am
Besten im Kampf aktive KollegInnen bei den nächsten Wahlen als
KandidatInnen vorgeschlagen und aufgestellt werden.
Örtliche oder je nach Stärke auch überregionale Kampagnen sind nicht nur
nötig, um Anerkennung und Verankerung zu erreichen. Solche Kämpfe und
Kampagnen sind vor allem notwendig, weil sie den einzigen Weg
darstellen, was zu bewegen und zu verändern. Das einzige, was
Arbeitsplätze rettet, ist und bleibt schließlich der Kampf um den Erhalt
der Arbeitsplätze.
In dieser Gesellschaft bestimmt die Wirtschaft die Politik, nicht
umgekehrt. In den Parlamenten wird nur dann etwas geschehen, wenn vorher
über den Kampf in den Betrieben oder in den Stadtteilen das
Kräfteverhältnis zu Gunsten der arbeitenden Bevölkerung verschoben
wurde. Linke Abgeordnete werden das Parlament in erster Linie als
Plattform nutzen können, wo sie die Anliegen von ArbeiterInnen oder
Erwerbslosen zu Wort kommen lassen.
In der Erklärung der Wahlalternative werden die außerparlamentarischen
Bewegungen korrekt als "primäre Bedeutung für fortschrittliche
politische Veränderung" eingestuft. Allerdings fehlt im Papier eine
Strategie für Arbeitskämpfe, Streiks und Massenstreiks. Gleichzeitig
wird herausgestellt, dass die Ansprüche der außerparlamentarischen
Bewegungen "in staatliches Handeln umgesetzt werden können". Das macht
hellhörig.
Es stellt sich die Frage, ob die VerfasserInnen die Möglichkeiten der
Parlamente im bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem
überschätzen. Die eigentliche Macht ist jedenfalls in den Chefetagen der
Banken, Konzerne und Versicherungen konzentriert. Dort werden die
wesentlichen Entscheidungen getroffen. Die Unternehmer sind außerdem in
der Lage, über ihre ökonomische Macht auch politische Macht auszuüben,
und dank ihrer Finanzmittel auf die parlamentarische Ebene massiv
einzuwirken. Es wird von den Autoren der "Wahlpolitischen Alternative
2006" zudem versäumt, auf die Instrumente der Herrschenden zu verweisen,
mit denen dieser Staat in ihrem Interesse genutzt wird: Ob Drohung von
Investitionsboykott oder Betriebsverlagerung, ob die
Unterdrückungsfunktion von Armee, Polizei und Justiz durch die
Kapitalistenklasse oder über Bestechung und Korruption.
Die Entwicklung der Grünen kann als Warnung dienen. Bei ihrem "Gang
durch die Institutionen" nabelten sie sich von ihrer
außerparlamentarischen Basis ab (die Basis bestand überwiegend im
Kleinbürgertum, also unter StudentInnen, AkademikerInnen,
Selbstständigen, nicht in der Arbeiterklasse). Jedenfalls gingen die
Grünen ursprünglich aus der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung hervor.
Nachdem sie 1978 in Hamburg und Niedersachsen in Landtagswahlen weniger
als vier Prozent erhielten, bei der Bundestagswahl 1980 auf 1,5 Prozent
kamen, konnten sie bereits 1983 mit 5,6 Prozent in den Bundestag
einziehen. Heute werden unter einem grünen Außenminister von deutschem
Boden aus Kriege geführt (1999 Balkan, 2001 Afghanistan). Unter einem
grünen Umweltminister wird die Atompolitik fortgesetzt. Während die
außerparlamentarischen Proteste gegen die Atomlobby immerhin erreichten,
dass von den einst achtzig geplanten Atommeilern mehr als die Hälfte
nicht gebaut wurden, koppelten sich die parlamentarischen VertreterInnen
von der Bewegung schnell ab. Vor zwei Jahren wurde die damalige
Grünen-Vorsitzende Claudia Roth ausgepfiffen und vom Traktor runter
geholt, als sie im Wendland an den Anti-Castor-Aktionen teilnehmen wollte.
Für ein anti-kapitalistisches und pro-sozialistisches Programm
Heute gibt es zwar eine Reihe verschiedener Parteien und
Regierungskonstellationen, aber nur eine Politik: Privatisierungen,
Stellenstreichungen, Lohnklau, Unternehmergeschenke... Eine neue Partei,
die für die arbeitende Bevölkerung eine grundlegende Alternative bieten
soll, muss damit brechen. Ausgangspunkt für eine neue politische
Interessenvertretung sollte die Ablehnung unternehmerfreundlicher
Politik sein. Außerdem sollte diese Partei den Kampf gegen Sozialraub
mit dem Kampf gegen Rassismus und Sexismus verbinden und damit der
Spaltung der arbeitenden Menschen entgegenwirken. Ein Programm, das sich
konsequent auf die Seite der Lohnabhängigen stellt, müsste auch gegen
Kriege, Abbau demokratischer Rechte und Umweltzerstörung vorgehen, da
diese Entwicklungen die Folge des Profitstrebens der Banken und Konzerne
sind.
Der neoliberale Einheitsbrei verweist auf die leeren Kassen. Aber wer
hat sie in welchem Interesse geplündert? Die Großunternehmen und
Finanzhäuser, die Reichen und Superreichen genießen heute
Steuerprivilegien, Subventionen und Vergünstigungen, während bei den
Beschäftigten, Erwerbslosen und SozialhilfeempfängerInnen die
Daumenschrauben angesetzt werden. In Berlin muss jeder Vierte mit
maximal 600 Euro über die Runden kommen, gleichzeitig sind Konzerne wie
DaimlerChrysler oder Siemens in der Bundeshauptstadt genauso wie in
anderen Städten der Republik von Steuerzahlungen weitgehend
freigestellt. Die neue Steuerreform spült den Einkommensmillionären in
diesem Jahr monatlich weit mehr als 5.000 Euro zusätzlich in die Kassen.
In dem Positionspapier der Wahlalternative wird die "Schwäche der
Binnennachfrage als Hauptproblem der wirtschaftlichen Entwicklung"
gegeißelt. Damit orientiert es sich an klassischen keynesianistischen
Ideen. Der bürgerliche Ökonom Keynes, der in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts wirkte, stellte den Kapitalismus nicht grundlegend in
Frage. Er forderte lediglich, die Nachfrage in Krisenzeiten (unter
anderem über eine höhere Kreditaufnahme des Staates) anzukurbeln, um im
nächsten Aufschwung antizyklisch die Staatsverschuldung wieder
herunterzufahren und die Angebotspolitik zu stärken. Die heutigen
Keynesianer setzen verstärkt auf staatliche Interventionen gegen die
anarchischen Kräfte des Marktes. Als SozialistInnen kämpfen wir
natürlich dafür, die Massenkaufkraft zu unterstützen und dem
Profitstreben entgegen zu wirken. Wir geben uns aber weder der Illusion
hin, dass damit strukturelle Krisen des Kapitalismus überwunden werden
könnten noch, dass die privaten Unternehmer Einschränkungen durch den
Staat widerstandslos hinnehmen würden.
Das kapitalistische System ist voller Widersprüche: Auf der einen Seite
große gesellschaftliche Bedürfnisse, auf der anderen Seite
Betriebsschließungen und Massenentlassungen. Auf der einen Seite 1,9
Milliarden Überstunden in der BRD im Jahr, auf der anderen Seite
offiziell 4,5 Millionen Arbeitslose. Auf der einen Seite wurde das
jährliche Bruttosozialprodukt seit 1960 verdoppelt, auf der anderen
Seite wird Altersarmut wieder ein Massenphänomen. Für die Autoren der
Wahlalternative soll sich die Diskussion "nicht um 'Reform oder
Revolution', sondern um sozialen Reformismus oder weiteren Vormarsch der
neoliberalen Reaktion" drehen. "Es geht nicht um eine neue explizit
linkssozialistische Partei." Es wird unumstritten sein, dass eine neue
"Linkspartei" in jedem Fall den Kampf für Reformen aufnehmen soll. Aber
was tun, wenn Sozialreformen in Zeiten struktureller statt
konjunktureller Krisen, in Zeit von Massenarmut, Arbeitslosigkeit und
kapitalistischem Niedergang begrenzt beziehungsweise vorübergehend sind?
Die Frage stellt sich dann, ob man sich der Logik der Marktwirtschaft
beugt, oder den Kampf gegen Konterreformen mit dem Kampf für eine
grundlegend andere, sozialistische Gesellschaft verbindet? Dafür tritt
die SAV ein. Unserer Meinung nach sollte eine neue Parteigründung diese
Frage nicht von vornherein ausklammern, sondern ergebnisoffen diskutieren.
In der DDR gab es keinen Tag Sozialismus. Dort waren die
Produktionsmitel zwar in Gemeineigentum überführt und die
Murkswirtschaft durch eine Planwirtschaft ersetzt, doch wurde nicht
unter Beteiligung der Arbeiterklasse auf allen Ebenen demokratisch
geplant. Stattdessen existierte eine abgehobene privilegierte Bürokratie
an der Spitze des Staates, die dafür sorgte, dass eine Karikatur auf die
sozialistische Gesellschaft entstand.
Manche auf der Linken mögen denken: Natürlich sind sozialistische Ideen
politisch richtig, kosten aber Stimmen und schrecken potenzielle
MitstreiterInnen ab. Die SAV teilt diese Ansicht nicht. In Irland konnte
die SAV-Schwesterpartei Socialist Party mehrere Stadtratssitze und einen
Parlamentsposten erobern. Ausschlaggebend war die Verhinderung von
Wassergebühren in Dublin durch eine Massenkampagne, die von Mitgliedern
der Socialist Party angeführt wurde. Auf dieser Basis war die
sozialistische Ausrichtung kein Hindernis. Viele ArbeiterInnen
verstanden, dass das Programm und die Kampfvorschläge der SozialistInnen
den Positionen aller anderen politischen Gruppen und Organisationen
überlegen waren. Nicht wenige beteiligten sich auch aktiv am Wahlkampf.
Generell stellten unsere irischen GenossInnen eine große Offenheit
gegenüber sozialistischen Ideen fest. Gleiches gilt für England, wo die
dortige Socialist Party in Coventry und London-Lewisham fünf
Stadtratspositionen gewann.
In Österreich konnte die dortige Kommunistische Partei, die KPÖ, vor
einigen Jahren in Graz ein im bundesweiten Vergleich herausragendes
Wahlergebnis erzielen. Das gelang ihnen auf Grundlage einer Kampagne für
die Rechte von MieterInnen. In diesem Fall war der Parteiname auch kein
Hindernis, in neue Schichten vorzustoßen.
Für demokratische Strukturen
Die Initiative für eine Linkspartei oder ein linkes Wahlbündnis sollte
von Anfang an so angelegt sein, dass sich AktivistInnen und
Interessierte angesprochen und einbezogen fühlen. Soll ein solcher
Vorstoß abheben, benötigt es die aktive Beteiligung von kämpferischen
Vertrauensleuten, Gewerkschaftslinken, VertreterInnen aus der sozialen
Bewegung, der Antikriegsbewegung, UmweltschutzaktivistInnen,
SozialistInnen, vor allem aber auch KollegInnen und
Arbeiterjugendlichen, die gerade beginnen sich politisch oder
gewerkschaftlich zu engagieren.
Die SPD und die stalinistischen Organisationen waren völlig
undemokratisch aufgebaut. Gerade auf Basis dieser Erfahrungen besteht
eine besondere Sensibilität bezüglich Demokratie, Transparenz und
Offenheit. In Britannien isolierte sich Arthur Scargill mit seiner Mitte
der neunziger Jahre gegründeten Socialist Labour Party genau aus diesem
Grund. Trotz seines Ansehens als Vorsitzender der britischen
Bergarbeitergewerkschaft NUM im Streik 1984/85 stieß er die meisten
potenziellen UnterstützerInnen einer solchen Partei vor den Kopf, da
Scargills Parteikonzept undemokratisch und sektiererisch war, in dem
kein wirklicher Austausch politischer Differenzen zugelassen wurde.
Um so besorgter machen uns die Überlegungen in dem ersten ausführlichen
14-seitigen Entwurf der Wahlalternative vom 5. Februar. Dort heißt es:
"Der Ansatz (...) ist in der ersten Etappe ein Top-Down-Projekt." Die
Ausführungen in dem Papier erwecken den Eindruck, dass zuerst ein
ausgewählter Kreis zusammenkommen und das Projekt gestalten sowie
politisch ausrichten soll. Erst wenn die Weichen gestellt sind, soll das
Ganze dann für andere geöffnet werden. Ohne die unmittelbare Öffnung für
alle diejenigen, die mit einer solchen Wahlalternative erreicht und
repräsentiert werden sollen, läuft man jedoch Gefahr, das Potenzial der
betrieblichen und gewerkschaftlichen AktivistInnen oder der Akteure aus
den sozialen Bewegungen nicht zu nutzen. Mehr noch, damit provoziert man
Misstrauen und Ablehnung gegenüber dem Projekt.
Die SAV tritt dafür ein, dass eine neue Partei ein Sammelbecken ist für
GewerkschafterInnen, GlobalisierungskritikerInnen, SozialistInnen,
AntifaschistInnen, UmweltschützerInnen, Frauenrechtlerinnen und andere.
Bestehenden Organisationen sollte es möglich sein, ihre Identität und
Struktur aufrechtzuerhalten. Es sollte allen Gruppen und Organisationen
freigestellt sein, eine Plattform zu bilden und für die eigenen
Überzeugungen offen aufzutreten.
Damit eine solche Partei nicht bürokratisch degeneriert, gilt es unserer
Meinung nach, bestimmte Grundprinzipien zu beherzigen; Grundprinzipien,
wie sie beim Aufbau der Arbeiterbewegung entwickelt wurden. Dazu gehört
die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von FunktionärInnen, eine
allgemeine Rechenschaftspflicht von Funktionären und Leitungsgremien
gegenüber der Mitgliedschaft und regelmäßige Konferenzen auf allen
Ebenen. Entscheidungen sollten nach einem intensiven Diskussionsprozess
mit einfacher Mehrheit gefällt werden. Um ein Abheben von Funktionären
im Keim zu ersticken, sollten alle in verantwortlichen Positionen nicht
mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn erhalten. Diese Ideen
gehen auf die Pariser Kommune 1871 zurück, wurden von SozialistInnen wie
Luxemburg, Liebknecht, Lenin oder Trotzki aufgegriffen und in den
revolutionären Bewegungen am Ende des Ersten Weltkriegs ebenfalls
angewendet.
Beim Aufbau einer neuen politischen Formation wird heute auch das Recht
auf Autonomie lokaler Gruppen wichtig sein. Auf Grund des
Zusammenkommens verschiedener Kräfte mit verschiedenen Erfahrungen und
Traditionen in den Protestbewegungen und auf der Linken sollten lokale
Gruppen Spielraum für eigene Schwerpunktsetzungen bekommen.
Voraussetzung dafür wäre, dass sie auf Grundlage einer gemeinsamen
Plattform agieren würden. Darunter wäre mindestens die Ablehnung aller
Lohn-, Sozial- und Bildungskürzungen, die Ablehnung von Kriegspolitik
und Umweltzerstörung, sowie Opposition gegenüber jeglicher
Diskriminierung (ob gegen Frauen, ImmigrantInnen oder gegen Schwule,
Lesben und Bisexuelle) zu verstehen.
Für einen Kurswechsel der Gewerkschaften
Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer hält die Erwägungen einer
Parteigründung "für einen Fehler, für eine Torheit" (FAZ vom 15. März
2004). "Sektierertum hat noch nie zum Erfolg geführt." Die
Gewerkschaftsführung versucht nach wie vor, die Bande zwischen SPD und
Gewerkschaften aufrechtzuerhalten. Bei der Bundestagswahl 2002 ließ sie
sich das noch zwei Millionen Euro Wahlkampfhilfe kosten. Da
Gewerkschaftsmitglieder das Rückgrat einer neuen Arbeiterpartei
darstellen sollten, muss der Kampf um einen Bruch der Gewerkschaften mit
der SPD verstärkt werden. In gewerkschaftlichen Gliederungen sollten
Anträge eingebracht werden, in denen diese Forderung mit der Diskussion
über die beiden Initiativen von IG Metall- beziehungsweise
ver.di-Mitgliedern verbunden wird. In den Bezirken sollten Debatten mit
den ErstunterzeichnerInnen dieser Initiativen eingefordert werden.
Ein Bruch der Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie reicht aber nicht.
Die Gewerkschaften selber müssen grundlegend verändert werden. Zu Recht
sagen sich immer mehr KollegInnen: Verzichten kann ich auch allein,
dafür brauche ich keine Gewerkschaft. Die Kampfkraft der immerhin noch
7,4 Millionen DGB-Mitglieder wird nicht entschlossen genutzt. Bei Hartz
saßen VertreterInnen der DGB-Spitze mit am Tisch. Während die IG
Metall-Führung in der jüngsten Tarifrunde betriebliche Vereinbarungen
für Arbeitzeitverlängerungen erleichterte, lässt sich die ver.di-Spitze
in Sachen "Neugestaltung des Tarifrechts im Öffentlichen Dienst" hinter
den Kulissen auf Verhandlungen über die Streichung von Sonderzahlungen
oder die Förderung von Flexibilisierung ein. Nötig ist eine
programmatische und personelle Alternative in den Gewerkschaften. Diese
Organisationen der Lohnabhängigen müssen endlich zu echten
Kampforganisationen werden. Statt Co-Management ist die Mobilisierung
der Beschäftigten branchenübergreifend bis hin zu Streiks, Vollstreiks
und einem eintägigen Generalstreik das Gebot der Stunde. Deutliche
Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohn- und
Personalausgleich, Ausbildung und Übernahme für alle Jugendlichen,
Rückverstaatlichungen privatisierter Betriebe, Enteignung von Betrieben,
die Firmenschließungen oder Entlassungen planen, unter demokratischer
Kontrolle und Verwaltung der Beschäftigten – das sind Forderungen, die
sich die Gewerkschaften wieder auf die Fahnen schreiben sollten.
Außerdem ist eine Demokratisierung der Gewerkschaften erforderlich. Hier
sind die gleichen Ansprüche wie im Bezug auf eine neue Partei zu stellen.
Welche Chancen hat eine Linkspartei?
Die Aussichten für die Initiative "Arbeit und soziale Gerechtigkeit" und
für die Wahlalternative sind völlig offen. Viel wird davon abhängen, ob
sie den Diskussionsprozess öffnen und AktivistInnen und neue Schichten
aus den Betrieben, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen ansprechen.
Sollte im Sommer tatsächlich der Grundstein für ein neues linkes
Wahlbündnis gelegt werden, ist auch damit noch kein Erfolg garantiert.
An dem Vorstoß aus Bayern sind zwei IG-Metall-Vorstandsmitglieder
beteiligt, an der Wahlalternative mehrere mittlere ver.di-Funktionäre.
Entscheidend wird sein, ob sie bereit sind die Auseinandersetzung auch
innerhalb der Gewerkschaften für eine klassenkämpferische Politik und
eine innergewerkschaftliche Demokratisierung einzugehen – oder ob
andere, die in diese Richtung gehen wollen, sich in dem Projekt
durchsetzen können. Ohne die Einbeziehung einer größeren Zahl von
aktiven Kräften oder die Verbindung zu realen Kämpfen und Protesten
könnte ein solches Projekt auch im Sande verlaufen.
Ganz gleich, ob die beiden Initiativen abheben oder nicht, bestätigen
sie eindeutig die fundamental veränderte Lage in der Bundesrepublik. Mit
dem Klassenkampf von oben, mit der Verbürgerlichung der Sozialdemokratie
und mit der enormen Wut und Kampfbereitschaft unter ArbeiterInnen und
Jugendlichen nehmen die Debatten innerhalb der Gewerkschaften im
Hinblick auf einen Bruch mit der SPD und die Bildung einer neuen
Arbeiterpartei zu. Auch für AktivistInnen von sozialen Bewegungen stellt
sich zugespitzt die Frage nach einer politischen Alternative zum
bürgerlichen Establishment.
Internationale Erfahrungen zeigen, dass es beim Prozess der
Herausbildung einer neuen Partei für die arbeitende Bevölkerung auch
Rückschläge, Fehlstarts und Verzögerungen geben kann. In Deutschland ist
in den kommenden Monaten und Jahren eine dramatische Zunahme von
Arbeitskämpfen, Streiks bis hin zu Massenstreiks zu erwarten. Die
politische Weiterentwicklung und die Erfahrung von AktivistInnen in
diesen Klassenkämpfen wird entscheidend für das Entstehen und den
substanziellen Aufbau einer neuen Partei sein.
In Köln, Aachen und anderen Städten von Nordrhein-Westfalen gibt es
Bestrebungen, für die anstehenden Kommunalwahlen linke Wahlbündnisse zu
gründen. Ähnliche Versuche gibt es in anderen Bundesländern. Schon vor
den beiden Initiativen aus IG Metall und ver.di entzündeten sich in den
Gewerkschaften Auseinandersetzungen zum Verhältnis mit der SPD, zum
Beispiel beim letzten Gewerkschaftstag der IG Metall und der
IGM-Bundesjugendkonferenz 2003. Die von ver.di und Attac vorbereitete
Perspektivkonferenz im Mai wird eine Gelegenheit für weitergehende
Debatten auf der Linken und in der Arbeiterbewegung über
gesellschaftliche Alternativen bieten. Solche örtlichen linken
Wahlbündnisse, Arbeiterkandidaturen und Diskussionsforen in den
Gewerkschaften und in den sozialen Bewegungen können Schritte in
Richtung einer neuen politischen Interessenvertretung für
ArbeitnehmerInnen, Jugendliche und sozial Benachteiligte darstellen.
Sollten sich die Initiativen "Arbeit und soziale Gerechtigkeit" und die
Wahlpolitische Alternative für andere AktivistInnen öffnen, neue
Schichten ansprechen, demokratisch vorgehen und bereit sein, sich mit
dem Kapital anzulegen, könnten daraus wichtige Kristallisationspunkte
für eine neue Partei entstehen. Internationale Fortschritte könnten
ebenfalls positive Impulse geben. Die SAV wird an diesen Kämpfen und
Debatten aktiv und solidarisch teilnehmen, einen Beitrag leisten, um
diese Prozesse zu fördern und für antikapitalistische und sozialistische
Ideen eintreten.
Berlin, den 23. März 2004
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