[SAV-newsletter] Aktueller Artikel zur Tragödie von Winnenden
Sascha Stanicic
sst at sav-online.de
Do Mär 12 18:29:28 CET 2009
Nach dem Amoklauf in Winnenden
* Ursachen bekämpfen statt Ablenkung auf "Killerspiele" *
* *
Winnenden am 11. März 2009: Die schwäbische Kleinstadt wird Schauplatz
eines Amoklaufes, dem 15 Menschen zum Opfer fallen. Der Täter ist ein
17-jähriger ehemaliger Schüler der Albertville-Realschule, in der die
Mordserie ihren Auftakt fand.
/von Lucy Redler, Mitglied Linksjugend["solid] Berlin und
SAV-Sprecherin/
Neun SchülerInnen und drei Lehrerinnen werden im Schulgebäude
erschossen. Drei weitere Menschen werden auf der Flucht getötet.
Angehörige, LehrerInnen und Freunde stehen unter Schock. Am frühen
Nachmittag, kurz nach Schulschluss, setzten sich Jugendliche im ganzen
Bundesgebiet an ihre Computer und tippten Beileidsbekundungen und
tröstende Worte in Blogs und Internetplattformen wie SchülerVZ. In den
Beiträgen ist die meistgestellte Frage: "Wie konnte das nur passieren?"
Deutschland auf Platz zwei der Amokläufe
Die Tat ruft Erinnerungen an vorangegangene Amokläufe wach: Im März 2000
schoss ein 16jähriger Schüler eines Realschulinternats in Brannenburg
(Bayern) auf den Leiter der Einrichtung, nachdem er tags zuvor von der
Schule verwiesen wurde. Im April 2002 erschoss ein Erfurter Schüler 16
Menschen an seiner ehemaligen Schule. Im November 2006 eröffnete ein
18-jähriger in Emsdetten das Feuer in seiner Schule, verletzte mehrere
Menschen und erschoss sich selbst. Deutschland hat nach den USA in den
letzten 10 Jahren die meisten Amokläufe junger Menschen zu verzeichnen.
Wie in den vorangegangenen Fällen wird auch jetzt über den Tag hinweg
eilig ein Täterprofil zusammengeflickt. Schwarze Kleidung, wenig
Freunde, in sich gekehrt und vor allem eine Neigung zu "Killerspielen"
und Horrorvideos lautet die Beschreibung bis zum Abend des 11. März.
Focus-Online titelt am 12. März: "Amokläufer spielte Gewaltspiele". Den
Kommentatoren der Medien zufolge stehe ein klares Motiv nicht fest. Der
Junge komme aus wohl behüteten Verhältnissen.
Killerspiele als willkommenes Alibi für jugendfeindliche Politik
In Nachlese des Amoklaufs in Erfurt veröffentlichte die "Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung" unter dem Titel "Software fürs Massaker"
einen Artikel, der das PC-Spiel "Counter Strike" als eine Art
Trainingscamp für Amokläufer beschreibt. In gleicher Manier haben
zahlreiche Politiker und "Experten" in den so genannten "Killerspielen"
den Hauptgrund für Amokläufe ausgemacht. Die Spiele würden die
Hemmschwelle zum Töten herabsetzen, Jugendliche abstumpfen und
schließlich zum Töten trainieren. Edmund Stoiber und andere Politiker
machten es zur Chefsache den Spielen den Garaus zumachen.
Abgesehen davon, dass es schwierig ist, überhaupt einen Jugendlichen zu
finden, der nicht auch mal ein "Killerspiel" spielt, kann ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen "Killerspielen" und Amokläufen nicht
belegt werden. Dieselben Jugendlichen, die Beileidsbekundungen und
ehrliche Bestürzung anlässlich des Amoklaufs über das SchülerVZ posten,
sind zugleich Mitglied in Gruppen wie: "Ja,ich spiele Counterstrike.
NEIN, ich plane KEINEN Amoklauf!"
Natürlich kann der exzessive Gebrauch von "Killerspielen", insbesondere
bei Kindern und sehr jungen Jugendlichen, das Problembewusstsein zum
Thema Gewalt negativ beeinflussen.
Es ist aber auch offensichtlich, dass sich die Amokläufe nicht auf eine
Neigung zu solchen PC-Spielen reduzieren lassen. Für Politiker ist dies
jedoch eine willkommene Erklärung. Diese Debatte verhindert nämlich,
dass die Ursachenforschung auf ihr eigenes Handwerk, nämlich eine
jugendfeindliche Politik, fällt.
Tatort Schule
Sämtliche Amokläufe der jüngsten Zeit fanden in den Schulen ihren
Ausgangspunkt. Ginge es einzig um das Ausleben von Gewaltphantasien,
hätte auch jeder andere Ort für die Tat gewählt werden können. Für
zahlreiche SchülerInnen ist die Schule ein Ort der Peinigung, des
Stresses, der Verzweiflung und letztlich auch der Perspektivlosigkeit
und Ohnmacht. In Ankündigungen von Amokläufern ist oft von
Rachefeldzügen die Rede. Der Amokläufer von Erfurt wurde kurz vor der
Planung seiner Tat darüber benachrichtigt, dass er seinen
Gymnasialabschluss nicht erhalten würde. Für einen Jugendlichen in
Thüringen bedeutete das völlig ohne Schulabschluss dazustehen in einem
Bundesland mit 17 Prozent Arbeitslosigkeit und einer allgegenwärtigen
Perspektivlosigkeit. Obwohl der Schüler in Winnenden aus einer
gutbetuchten Unternehmerfamilie kam, hat auch er von der fünften Klasse
an starke schulische Probleme gehabt. Obwohl er nicht mehr Schüler war,
wählte er die Schule als Tatort. Das kann kein Zufall sein.
Amokläufe sind die Ausnahme -- Kranker Leistungsdruck ist die Regel
LehrerInnen sind mit Klassengrößen von über 30 SchülerInnen überfordert.
Schulsozialarbeit findet kaum statt. Auf die Belange und Probleme
einzelner Jugendlicher kann unter diesen Bedingungen kaum Rücksicht
genommen werden. Auf Seiten der SchülerInnen ist Leistungsdruck
allgegenwärtig. Der Wechsel von einem höheren Schulzweig auf einen
niedrigen wird als Versagen wahrgenommen. Gute Zensuren werden als
notwendig angesehen, um später Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben.
Freizeit wird vor dem Hintergrund von Schulzeitverkürzungen wie "G8"
immer enger. Der Druck von Klausuren und Abschlusstests bestimmt das
Leben vieler junger Menschen. Eine Schülerin machte in Erfurt während
einer Trauerveranstaltung im Jahr 2002 deutlich: "Ihr alle wisst ja
unter welchem Leistungsdruck wir stehen. Ausreichend Gelder für die
Bildung aber fehlen. Wir haben in den Schulen eingeschränkte
Gedankenfreiheit. Wir müssen aufpassen, was wir sagen, um uns nicht
schlechtere Zensuren einzufangen" (Berliner Zeitung, 30.04.2002).
Die Reaktionen von SchülerInnen auf den schulisch bedingten Druck sind
unterschiedlich. Die einen meistern ihn ohne große Probleme. An einer
immer größeren Anzahl geht der Schulstress allerdings nicht spurlos
vorbei. Mittlerweile leiden 20 Prozent der Jugendlichen und Kinder unter
psychischen Erkrankungen. Sie äußern sich meistens in starker Angst,
Aggressivität, Essstörungen oder depressiven Symptomen, die bis hin zu
Selbstmordgefährdung oder noch schlimmeren Absichten reichen. Während
grausame Amokläufe hierbei die Ausnahme darstellen, ist Verzweiflung ein
Massenphänomen unter SchülerInnen. Der Druck im aktuellen Schulsystem
macht krank
Jugendfeindliches Umfeld
Außerhalb der Schule wachsen Jugendliche in einem familiären Umfeld auf,
indem die Eltern eine Erziehung unter extremen Bedingungen meistern
sollen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise drohen Kündigungen und
der Arbeitsdruck steigt. In vielen Bereichen ist die Arbeitszeit seit
Jahren enorm flexibilisiert. Überstunden und Wochenendarbeit stehen auf
der Tagesordnung. Die Verantwortung für die Erziehung der Kinder wird
dabei allein auf die Familien und vor allem die Frauen geschoben.
Hortbetreuung oder Ganztagsangebote an Schulen sind selten und müssen
oft aus privater Tasche bezahlt werden. Für viele Familien ist das
unbezahlbar. Kostenlose Freizeitangebote jenseits der Schule, z.B. in
Jugendzentren, in denen Sozialarbeiter im Krisenfall als Ansprechpartner
zur Verfügung stehen, sind seit Jahren von enormen Kürzungen betroffen.
Eine weitere Tragödie muss verhindert werden
Nach jedem Amoklauf werden Maßnahmen in Angriff genommen, die an den
ursächlichen Problemen nichts ändern. Weder ein weiteres Verbot von
Killerspielen, noch Sicherheitsdienst und Metalldetektoren am
Schuleingang werden die Perspektiven von Jugendlichen verbessern. Auch
nach diesem Amoklauf ist zu befürchten, dass bürgerliche Politiker in
erster Linie die Repression auf Schulhöfen verstärken wollen.
Der österreichische Standard kommentiert die Folgen des Massakers von
Erfurt wie folgt: "Es ist ja nicht so, dass nach dem Massaker von Erfurt
nichts passiert ist. Die Waffengesetze wurden verschärft, der Kauf von
Computerspielen wurde erschwert. Vieles aber wurde nicht gemacht, Einen
Psychologen wollte der damalige Innenminister Otto Schily in jede Schule
schicken. Der Vorsatz blieb ein Vorsatz."
Auch heute kommen noch 12.000 SchülerInnen auf einen Schulpsychologen.
Seit Erfurt hat sich an diesen Verhältnissen nichts geändert. Die Logik
ist klar: Mehr Schulpsychologen kosten Geld. Verbote von irgendwelchen
Killerspielen kosten nichts und wälzen die Verantwortung für
gesellschaftliche Missstände auf die Jugendlichen ab.
Statt einer Debatte über "sichere Schulen" brauchen wir ein sicheres
Schulsystem, was SchülerInnen und LehrerInnen den Druck nimmt. Dazu sind
als erstes eine drastische Verkleinerung der Klassen und eine massive
Erhöhung der LehrerInnenstellen nötig.
Nach dem Erfurter Amoklauf gründete sich ein Bündnis aus SchülerInnen,
die einen Trauermarsch von mehreren Tausend SchülerInnen organisierten.
Eine Forderung von ihnen war die Verkleinerung der Klassengrößen.
Statt zahlreicher Tests und Hetze von einer Benotung zu der nächsten,
brauchen wir ein Schulsystem das sich an die individuellen
Lernschnelligkeiten der SchülerInnen anpasst. Noten sind keine objektive
Feststellung der Leistung von SchülerInnen, mit Noten wird die
Konkurrenz untereinander gefördert. Notenvergabe heißt "Lernen durch
Angst". Deshalb müssen Noten abgeschafft werden und Fähigkeiten und
Interessen individuell mit den SchülerInnen diskutiert werden.
Dazu muss die Selektion in Haupt-, Realschule und Gymnasium aufgehoben
werden. Stattdessen brauchen wir eine Schule für alle, die Lerngruppen
mit SchülerInnen verschiedenster Stärken, Interessen und Fähigkeiten
zusammenbringt.
Besonders groß ist oftmals der Druck für SchülerInnen aus ärmeren
Familien. Sie können es sich aus Kostengründen oft nicht leisten, dass
die Kinder ein Gymnasium oder gar eine Universität besuchen. Hohe
Gebühren für Bücher, fehlendes Geld für Schulmaterialien oder für
Klassenfahrten machen es schwierig für ärmere Jugendliche am
Bildungssystem teilzunehmen. So gehen heute nur zehn Prozent der
Jugendlichen aus einfachen Arbeiterfamilien auf ein Gymnasium. Noch
geringer ist diese Prozentzahl unter MigrantInnen. Bildung darf nicht
abhängig sein vom Geldbeutel. Deshalb muss es vollkommen kostenlose
Bildung für alle geben.
Damit SchülerInnen ihre Kritik, Probleme und Sorgen frei äußern können,
bedarf es demokratisch gewählter Gremien in den Schulen, an denen
SchülerInnen. LehrerInnen und Gewerkschaften gemeinsam bestimmen was und
wie gelehrt wird.
Um dieses zu verwirklichen, muss es eine vollkommen öffentliche und
ausreichend finanzierte Bildung geben.
Verschärfung durch kapitalistische Krise
Der Druck an Schulen, soziale Auslese, Jugendarbeitslosigkeit und
Perspektivlosigkeit war schon in den Jahren des Wirtschaftsaufschwungs
enorm. Das wird sich in der gerade begonnen kapitalistischen Krise noch
massiv steigern. Immer mehr Jugendliche laufen Gefahr, in diesem System
zu verzweifeln. Um Ohnmacht, Isolierung und Verzweiflung in Widerstand
zu verwandeln ist eine antikapitalistische Antwort nötig, die die
Interessen hinter dem dreigliedrigem Schulsystem und seiner Funktion in
der kapitalistischen Wirtschaft aufdeckt und Alternativen formuliert.
Warum werden Milliarden in die Banken gepumpt und nicht in die Schulen?
Warum werden nur marode Banken und nicht alle im Interesse der
Allgemeinheit verstaatlicht, um die bisherigen Überschüsse in Bildung
und andere Bereiche einzusetzen? In was für einer Gesellschaft leben wir
eigentlich, in der immer mehr Menschen von Hartz IV leben und einige
wenige Milliarden einstecken?
Eine wirkliche Alternative zu diesen Zuständen ist eine sozialistische
Gesellschaft, in der die Bedürfnisse aller Menschen im Mittelpunkt
stehen. Damit dies möglich wird, müssen die großen Konzerne und Banken
in öffentliches Eigentum überführt und unter die demokratische Kontrolle
und Verwaltung der Belegschaften und Vertretern der arbeitenden
Bevölkerung gestellt werden. In einer Gesellschaft, die nicht der
Profitlogik und dem Konkurrenzdenken unterliegt, könnten soziale
Fortschritte dauerhaft gesichert werden.
Bundesweite Demos am 28.3. und Bildungsstreik
Ein wichtiger Ansatzpunkt, um sich gegen den Zustand an Schulen und Unis
unmittelbar zu wehren ist der Bildungsstreik, der am 17. Juni bundesweit
stattfindet. Linksjugend["solid] beteiligt sich aktiv an den
Vorbereitungen. Nicht nur SchülerInnen, Azubis und Studierende leiden
unter den heutigen Zuständen. Auch Lehrkräfte sind betroffen. Wir
sollten uns deshalb für den größtmöglichen Schulterschluss zwischen
SchülerInnen, Studierenden und LehrerInnen und dem Personal an Schulen
und Unis am 17. Juni einsetzen.
Die Großdemos gegen die Folgen der kapitalistischen Krise am 28. März
sind ein Auftakt, uns gemeinsam mit vielen anderen Menschen dagegen zur
Wehr zu setzen dafür, dass Jugendliche, Erwerblose und abhängig
Beschäftigte für die kapitalistische Krise zahlen sollen.
Das kann der Beginn sein, in Deutschland endlich zu französischen
Verhältnissen zu kommen.
Am 29. Januar streikten in Frankreich zwei Millionen Menschen gegen die
Folgen der Krise und die Situation an den Schulen. Zehntausende
SchülerInnen besetzten im Vorfeld des Streiks ihre Schulen. Der nächste
Generalstreik ist für den 19 März geplant. Sprechen wir auch in
Deutschland mit den Herrschenden endlich französisch: "Tous ensemble"-
alle gemeinsam.
Forderungen:
Kostenlose Bildung für alle
Verkleinerung der Klassen auf maximal 15 SchülerInnen
Rücknahme des Turboabiturs (G8)
Sofortige Einstellung von 100.000 LehrerInnen
Einstellung von genügend SchulsozialarbeiterInnen und PsychologInnen an
allen Schulen
Schluss mit Leistungsdruck, Auslese und Elitebildung im Interesse der
Banken und Konzerne: Abschaffung aller Noten, Ausbau der
Wahlmöglichkeiten nach Fähigkeiten und Interessen zur individuellen
Förderung
Eine Schule für alle mit kostenlosen Ganztagsangeboten
Demokratische Verwaltung von Schulen, inklusive Festlegung der
Lehrinhalte und --methoden, durch demokratisch gewählte Gremien von
SchülerInnen, LehrerInnen und Gewerkschaften
Statt Rettungspakete für Banken und Konzerne: Sofortige Rücknahme aller
Kürzungen in den Bereichen Jugend, Bildung, Soziales, Gesundheit, Kultur
und Schaffung von ausreichend selbstverwalteten Jugend- und
Freizeit-einrichtungen
Abschaffung von Hartz IV
Jugendarbeitslosigkeit stoppen: Für eine drastische
Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn und
Personalausgleich
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