[SAV-newsletter] SAV-Stellungnahme zur bundesweiten Demonstration am 1. November 2003
SAV Zentrale
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Mi Nov 5 15:59:54 CET 2003
Vom Protest zum Widerstand
Die Bedeutung der Demonstration vom 1.11. und die Aufgaben für die
Bewegung gegen den Sozialraub
Der 1. November hat alle Erwartungen übertroffen. 100.000 gegen die
große Koalition der Sozialräuber aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU
und FDP. GewerkschafterInnen, Erwerbslose, Jugendliche, RentnerInnen,
Frauen, GlobalisierungskritikerInnen, SozialistInnen - sie alle trugen
ihre Wut gegen die Politik für die Reichen und Superreichen auf die
Straße. Ein nicht enden wollendes Meer von roten Fahnen,
Gewerkschaftsbannern, selbstgemalten Transparenten und Handschildern
überflutete die Berliner Straßen zwischen Alexanderplatz und
Gendarmenmarkt. 30.000 waren mit Bussen aus dem ganzen Bundesgebiet
angereist, 70.000 kamen aus Berlin und Tausende davon schlossen sich der
Demonstration spontan an.
Die Demonstration am 1. November war die größte Demonstration gegen
Sozialkahlschlag, seit SPD und Grüne 1998 an die Regierung kamen. Trotz
der fortgesetzten Blockadehaltung der Gewerkschaftsspitze machten
100.000 engagiert und kämpferisch ihrem Unmut Luft. Damit markiert der
1. November einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der
Bundesrepublik. Diese Demo brachte die seit Monaten und Jahren
angestaute Unzufriedenheit und Wut gegenüber der beispiellosen
Umverteilungspolitik von unten nach oben eindrucksvoll zum Ausdruck. Was
sich zuletzt in der Absage an den Einheitsbrei der etablierten Parteien
bei den Kommunalwahlen in Brandenburg durch eine dramatisch gesunkene
Wahlbeteiligung noch indirekt äußerte, konnte mit dem Angebot dieser
bundesweiten Demo aktiv gezeigt werden.
„Da braut sich einiges zusammen“, erklärte der SPD-Bundestagsabgeordnete
Ottmar Schreiner unter dem Eindruck dieser Demonstration. Ottmar
Schreiner, der keineswegs für eine Linkswende in der SPD steht, sondern
nur eine langsamere Gangart beim Sozialabbau vertritt, gehört offenbar
zu denjenigen, die sich aufgeschreckt von diesem Wutausbruch am 1.11.
Sorgen machen, ob nicht der Bogen überspannt werden könnte. Im scharfen
Kontrast dazu waren jedoch die überwiegenden Reaktionen der Unternehmer,
ihrer Parteien und ihrer Medien. Die Demonstration ignorierend ließen
sie keinen Zweifel daran, mit ihrem Kurs fortzufahren. Allein in den
letzten Tagen kündigten sie eine Reihe weiterer Sozialkürzungen an – ob
die geplante Nullrunde bei den RentnerInnen in den nächsten zwei Jahren
oder die offensive Forderung nach Arbeitszeitverlängerung ohne
entsprechende Lohnerhöhungen. Regierung und Kapital wollen die Demontage
der sozialen Sicherungssysteme weiter forcieren. Diese Ankündigungen
stellen eine offene Kampfansage an die arbeitende und erwerbslose
Bevölkerung dar. Wie arrogant sich die rot-grüne Bundesregierung
verhält, zeigte sich zuletzt daran, wie Krista Sager und andere
Grünen-Politiker attac attackierten – nachdem Schröder erst beim
Gewerkschaftstag der IG Metall offen zur Schau trug, dass er sich um
Proteste aus dem Gewerkschaftslager keinen Deut scheren will.
Die bundesweite Demonstration am 1. November in Berlin bedeutet eine
enorme Ermutigung für alle, die Opfer der unsozialen Rotstiftpolitik
sind. Schon bei der Auftaktkundgebung wurde klar, dass die Erwartungen
der OrganisatorInnen übertroffen wurden. Über 30.000 waren schon auf der
Straße, als SAV-Mitglied Nelli Tügel für das Demo-Bündnis die Kundgebung
eröffnete. Großen Applaus erntete der erste Redner, Nico Weinmann, als
er einen Generalstreik gegen den Generalangriff der Regierung Schröder
forderte. Er sprach als Vertreter des Kasseler Bündnisses „Jugend gegen
Sozialkahlschlag“, welches von widerstand international!, SAV und der
DGB-Jugend initiiert wurde und am 17.10. einen Schülerstreik mit einer
Demonstration von 1.500 Jugendlichen organisierte. Nico Weinmann,
Mitglied bei SAV und widerstand international!, rief auch an die Adresse
des DGB-Vorsitzenden Sommer gerichtet, aus: „DGB-Chef Sommer sagt, wir
sollen unsere ‚heiße Wut’ in ‚kalten Zorn’ verwandeln. Ohne uns, Herr
Sommer! Wir haben uns lange genug bremsen lassen. Wir müssen unsere
heiße Wut vielmehr in heißen und effektiven Widerstand verwandeln.“
„Da staunen die Gewerkschaftsbosse und hätten wohl gerne am Rednerpult
gestanden. 100.000 Unzufriedene haben die Veranstalter des Berliner
Protestzugs gegen die Regierungsreformen auf die Beine gebracht,
zehntausend mehr also, als der Gewerkschaftsbund Ende Mai motivieren
konnte“ (Stuttgarter Zeitung vom 3. November). Diese Demonstration ist
ein Schlag ins Gesicht der Gewerkschaftsbonzen, die sich geweigert
hatten, dazu aufzurufen und für sie zu mobilisieren. Gebetsmühlenartig
hatten die Bsirskes und Sommers in den letzten Wochen und Monaten
wiederholt, dass Demonstrationen gegen die Agenda 2010 nicht auf der
Tagesordnung stünden. Schließlich hätten die Gewerkschaftsproteste im
Mai gezeigt, dass die Beschäftigten nicht mobilisierbar seien. Statt zur
Demonstration zu mobilisieren, traf sich DGB-Vorsitzender Sommer mit
Edmund Stoiber und reichte ihm die Hand zur gemeinsamen Einführung von
Marktkonkurrenz und Zwei-Klassen-Medizin im Gesundheitswesen. Aber die
Sabotage der Bürokraten wurde am Samstag durchbrochen und viele
gewerkschaftliche Gliederungen riefen zu der Demonstration auf. Selbst
die wenige Wochen vor dem 1.11. stattfindenden Kongresse von IG Metall
und ver.di mussten auf Druck der Basis hin eine Unterstützung für die
Demo beschließen - was die Vorstände aber nicht daran hinderte, mit
ihrer Untätigkeit fortzufahren beziehungsweise sich weiterhin öffentlich
gegen Demonstrationen auszusprechen.
Mit Hinweis auf die Massenstreiks in anderen europäischen Ländern
bezeichnete der Sozialwissenschaftler Rainer Roth in seiner Rede die
DGB-Führung als „international nicht wettbewerbsfähig“. Kritische
Bemerkungen zur Rolle der Gewerkschaftsspitzen fanden bei den
DemoteilnehmerInnen immer wieder großen Beifall. Dies ist sehr
bedeutsam, gerade weil viele TeilnehmerInnen GewerkschafterInnen waren,
vor allem aus ver.di und IG Metall. Bei immer mehr
Gewerkschaftsmitgliedern wächst die Erkenntnis, dass sie verloren sind,
wenn sie sich auf ihre Führungen verlassen und dass stattdessen
selbstständig in den Betrieben und lokalen Gewerkschaftsorganisationen
gehandelt werden muss.
Dies drückte sich auch in der sehr positiven Resonanz aus, die die
AktivistInnen des Netzwerks für eine kämpferische und demokratische
ver.di bei der Demonstration gefunden haben. Sehr viele
ver.di-Mitglieder gaben ihre Adresse, weil sie mit dem Netzwerk zusammen
arbeiten wollen und erkannt haben, dass ein Zusammenschluss kritischer
und kämpferischer KollegInnen nötig ist, um der Führung organisiert
etwas entgegenzusetzen.
Große Teile der bürgerlichen Medien verkaufen die Demonstration als eine
stark von attac dominierte Demo. Auch wenn attac für die Demo
mobilisierte und einen eigenen Block hatte, verkennt diese Darstellung
die Realität. Was wirklich herausragte – und was den Herrschenden
überhaupt nicht schmeckt -, das war die beeindruckende Zahl
betrieblicher und gewerkschaftlicher AktivistInnen, aber darüber hinaus
auch die vielen Beschäftigten: Sechs Busse wurden für VW-KollegInnen in
Kassel-Baunatal bereitgestellt, drei für Porsche-ArbeiterInnen in
Stuttgart-Zuffenhausen, mehr als zwanzig Busse aus dem Stuttgarter Raum,
die von IG Metall und ver.di organisiert wurden, eine Reihe Busse für
Belegschaften von Autozulieferern im Mittleren Neckarraum, viele Busse
für Beschäftigte aus dem Ruhrgebiet sowie mehreren anderen Regionen.
Diese Demo hatte weder den Charakter einer Demo der traditionellen
Linken, noch eine von der Gewerkschaftsbürokratie kontrollierte, bewusst
unpolitisch gehaltene Demo mit „Volksfest“-Atmosphäre.
Bemerkenswert war auch die Beteiligung älterer Menschen, bei denen
Empörung und Angst über die jüngsten Rentenpläne in letzter Zeit schon
zu verstärkter Protestbereitschaft geführt hat.
Der von widerstand international!, IG BAU-Jugend Berlin, ver.di-Jugend
Stuttgart, SAV und anderen organisierte Jugendblock war mit über 800
TeilnehmerInnen ein voller Erfolg. Hier stand die Forderung nach
Generalstreik, aber auch nach Ausbildungsplätzen für alle
SchulabgängerInnen im Vordergrund.
Die SAV hatte eine sehr erfolgreiche Beteiligung bei der Demonstration.
Die Schlagzeile unserer Zeitung Solidarität drückte die Stimmung unter
vielen Kolleginnen und Kollegen aus: „Eintägigen Generalstreik
erkämpfen“. Es wurden rund 700 Zeitungen verkauft und immer wieder
drückten DemonstrantInnen ihre Unterstützung der Forderung nicht nur
durch den Kauf einer Zeitung, sondern auch mit dem nach oben gestreckten
Daumen aus, wenn sie an Solidarität-VerkäuferInnen vorbeigingen. Die
SAV-Stände, an denen Unterschriften für einen eintägigen Generalstreik
gesammelt wurden, waren zeitweilig geradezu belagert. Über 60
DemonstrantInnen äußerten ihr Interesse an der SAV und wollen mit uns in
Diskussion bleiben. Einer trat sofort im Bus von Hamburg nach Berlin in
die SAV ein.
Anders als bei den üblichen von der Gewerkschaftsspitze aufgezogenen
Demonstrationen, die nur zum Dampf ablassen missbraucht werden,
verbreitete der 1. November das Gefühl unter den TeilnehmerInnen, dass
diese Demonstration nur ein Anfang gewesen sein kann, auf die
weitergehende Proteste folgen müssen. Eine ansteckende Aufbruchstimmung
herrschte vor. Der 1.11. stellte unter Beweis, dass es der deutschen
Arbeiterklasse keineswegs völlig die Sprache verschlagen hat, dass sie
sich sehr wohl lautstark zu Wort melden kann und dass sie sogar in der
Lage ist, „französisch“ zu sprechen. Der Erfolg dieser Demonstration
wird dazu beitragen, dass sich Prozesse bei der Entwicklung von
politischem Bewusstsein und der Bereitschaft zu Gegenwehr beschleunigen
werden. Die Arbeiterbewegung in Deutschland ist potenziell stark genug -
vor dem Hintergrund neuer Angriffe auf den Lebensstandard der
lohnabhängigen Bevölkerung, den Auswirkungen der bisherigen
Gesetzespläne und der andauernden Krise des kapitalistischen
Wirtschaftssystems – in den kommenden Monaten Proteste bis hin zu
Massenstreiks zu erreichen.
Wie kam die Demo zustande?
Die Demonstration wurde „von unten“ organisiert. Aber auch einige der
Kräfte, die letztlich an der Organisierung der Demonstration teilnahmen,
waren vor wenigen Monaten noch als Bremse und Bedenkenträger
hinsichtlich der Durchführung einer solchen Demonstration aufgetreten.
Wie kam die Demonstration zustande? Die SAV hatte schon seit Frühjahr
die Idee einer bundesweiten Demonstration gegen den Sozialkahlschlag
verbreitet. Wir erklärten, es sei die Aufgabe der Gewerkschaften, die
Interessen der Beschäftigten und Erwerbslosen zu vertreten und den Unmut
und die Wut in einer Großmobilisierung zusammenzuführen. Eine solche
wäre ein erster Schritt zu wirklichen Kampfmaßnahmen – zum Beispiel
Streiks - gewesen. Als die Gewerkschaftsführungen im Frühjahr
unmissverständlich erklärten, dass sie Proteste und Widerstand
einstellen würden, vertraten wir die Position, eine bundesweite
Demonstration „von unten“ zu organisieren und nicht auf eine
Unterstützung der Gewerkschaftsspitzen zu warten. Parallel sollte ein
Demonstrationstermin festgelegt werden und in den Gewerkschaften Druck
für die Unterstützung einer solchen Demonstration ausgeübt werden.
SAV-Mitglieder haben dann diese Idee innerhalb des Netzwerks für eine
kämpferische und demokratische ver.di, bei der Initiative zur Vernetzung
der gewerkschaftlichen Linken und beim bundesweiten Treffen der
Anti-Hartz-Initiativen eingebracht und dort Unterstützung gewonnen. Dort
brachten SAV-Mitglieder auch den Vorschlag für die Durchführung einer
bundesweiten Aktionskonferenz ein, die eine solche Demo beschließen
könne. Die Konferenz fand dann Mitte August statt und legte den
dezentralen Aktionstag am 20. Oktober und die zentrale Demonstration am
1. November fest. SAV-Mitglieder und UnterstützerInnen des Netzwerks für
eine kämpferische und demokratische ver.di bewirkten ebenfalls, dass
auch auf dem ver.di-Gewerkschaftstag auf die ver.di-Spitze bezüglich der
Demo am 1.11. und weiterer Kampfmaßnahmen Druck ausgeübt wurde (über
eine Lobby, Initiativanträge und die Zusammenarbeit mit anderen linken
Delegierten).
Eine wichtige Rolle bei der Ausrichtung der Demo, der Verbreitung des
Demo-Termins und bei der Mobilisierung für den 1. November spielte
ver.di Stuttgart. Hier zeigte sich, was es bedeuten kann, wenn in einer
gewerkschaftlichen Untergliederung eine kämpferische Basis und eine
gegenüber dem Kurs der bundesweiten Gewerkschaftsspitze kritische und zu
weitergehenden Kampfmaßnahmen bereite örtliche Führung existiert.
Ohne vermessen zu sein und ohne den Beitrag der vielen anderen
beteiligten Kräfte zu schmälern, können wir sagen: ohne die Initiative
der SAV hätte es diese Demonstration zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben.
Wir haben diese Vorschläge machen und Initiativen ergreifen können, weil
wir die Stimmung in der Arbeiterklasse richtig eingeschätzt haben und
Vertrauen in die Mobilisierbarkeit von ArbeiterInnen, Erwerbslosen und
Jugendlichen hatten. Aber auch, weil wir den Mut hatten zu erklären,
dass die Zeit für die Durchführung großer Aktionen und Mobilisierungen
von unten reif ist.
Andere Kräfte sprachen sich leider im Sommer noch gegen eine bundesweite
Demonstration aus beziehungsweise weigerten sich, frühzeitig dazu
aufzurufen und zu mobilisieren. Dazu gehörte vor allem die Führung von
attac. Das Berliner Sozialforum brauchte Monate, bis es eine
Unterstützung für die Demo beschloss. Während SAV, Gewerkschaftslinke,
Anti-Hartz-Initiativen und andere den Zug „1. November“ ins Rollen
brachten, sprangen andere auf den fahrenden Zug auf, als immer
deutlicher wurde, dass die Demonstration viel Unterstützung gewann. Den
Vogel dabei abgeschossen hat wohl die PDS, die bei der Aktionskonferenz
noch gar nicht zu sehen war und dann in den letzten Wochen vor der Demo
ihren Einfluss geltend machte - während ihre Berliner Parteiorganisation
die Politik, die Schröder im Bund macht, auf Senatsebene weiter munter
mitunsetzt.
Aus unserer Sicht ist es positiv, dass sich diese Kräfte an der
bundesweiten Demonstration beteiligt haben. Wir haben von Beginn an
darauf gedrängt, darauf hinzuwirken, dass so viele wie möglich der vom
Sozialkahlschlag Betroffenen zu erreichen (ohne dabei die Position der
grundlegenden Ablehnung jeglichen Sozialabbaus zu verlassen). Es ist
aber kein Zufall, dass die genannten Kräfte nicht die Initiative für die
Demo ergriffen haben. Wir denken, dass sie den Unmut und die
Bereitschaft zum Protest in der Bevölkerung unterschätzt haben. Wir
denken auch, dass sie nur eine geringe Bereitschaft mitbringen, sich mit
den Gewerkschaftsspitzen anzulegen. Für die weitere Entwicklung des
Widerstandes wäre es ein großer Fehler, sich auf Kräfte wie die PDS oder
die heutige Mehrheit im Ko-Kreis von attac zu verlassen. Der Druck von
unten muss fortgesetzt werden.
Auf die Auseinandersetzungen im bundesweiten Vorbereitungskreis im
Vorfeld der Demonstration wollen wir hier nicht eingehen, verweisen aber
auf die SAV-Stellungnahme dazu, die über die SAV-Bundeszentrale bezogen
werden kann.
Wie weiter nach der machtvollen Demo am 1. November?
Die große Beteiligung an der Demonstration hat gezeigt, welche
Unzufriedenheit in der Bevölkerung existiert und dass es eine wachsende
Bereitschaft gibt an Protesten teilzunehmen. Hätten die Führungen von IG
Metall, ver.di und DGB zur Demo aufgerufen und hätten die
Gewerkschaftsorganisationen in allen Regionen und allen Betrieben dazu
mobilisiert, Flugblätter verteilt, Versammlungen durchgeführt, Busse und
Sonderzüge organisiert, hätten an dieser Demonstration 500.000 oder eine
Million Menschen teilgenommen. Jetzt kommt es darauf an, die Dynamik der
Demonstration nicht verpuffen zu lassen, sondern dazu zu nutzen, die
Protestbewegung weiter aufzubauen und vom Protest zum Widerstand zu kommen.
Der nächste Schritt muss sein, lokale Streiks und einen eintägigen
Generalstreik gegen den Sozialkahlschlag als Warnung an die
Schröder-Regierung und die Arbeitgeber zu erreichen. Die Notwendigkeit
dieser Kampfschritte ergibt sich aus der Qualität der Angriffe.
Regierung und Kapital sind fest entschlossen, ihre sogenannten Reformen
durchzusetzen. Die bürgerliche Opposition und die Arbeitgeberverbände
fordern sogar weitergehende Einschnitte beim Lebensstandard und den
Rechten der ArbeitnehmerInnen und Erwerbslosen. Demonstrationen alleine
werden die Herrschenden kaum umstimmen. Sie müssen dort getroffen
werden, wo es ihnen weh tut - bei ihren Profiten. Dazu sind Streiks
nötig. Diese Erkenntnis wächst unter den Gewerkschaftsmitgliedern.
Unzählige Schilder und Transparente am 1.11. forderten Streiks und einen
Generalstreik. Leider sind es oftmals auch „linke“ GewerkschafterInnen,
die diese Stimmung mit ihren Bedenken von der „Undurchführbarkeit“ eines
Generalstreiks bremsen. Aber nicht zuletzt die Entwicklungen in unserem
Nachbarland Österreich haben gezeigt, dass auch in Ländern ohne die
Tradition politischer Streiks, zumindest in der jüngeren Geschichte, ein
Generalstreik möglich ist.
Die „Doppelstrategie“ sollte fortgesetzt werden: einerseits unabhängig
von den Gewerkschaftsspitzen Aktionen organisieren und dafür die unteren
Gliederungen der Gewerkschaften gewinnen, andererseits weiterhin den
Druck auf die Gewerkschaftsvorstände verstärken, zu Kampfmaßnahmen
aufzurufen.
Auf Basis des Erfolgs der Demonstration sollte das Demo-Bündnis, also
der Zusammenschluss der an der Mobilisierung von unten beteiligten
Kräfte, die Gewerkschaftsspitzen zu einem gemeinsamen Treffen zur
Diskussion über weitere Widerstandsmaßnahmen auffordern und an diese die
Forderung richten, baldmöglichst eine bundesweite
Gewerkschaftsdemonstration durchzuführen. Eine solche Demonstration
könnte eine Millionendemonstration werden und wäre die beste
Vorbereitung für einen eintägigen Generalstreik. Auch wenn es nicht sehr
wahrscheinlich ist, dass die Gewerkschaftsführungen dazu bereit sind,
macht das Angebot eines gemeinsamen Treffens allein Sinn, um die zu
erwartende Weigerung der Führungen zu dokumentieren und um innerhalb der
Gewerkschaftsmitgliedschaft mehr Gehör zu finden. Denn hier haben noch
nicht alle Kolleginnen und Kollegen die Sabotagehaltung ihrer Führung
durchschaut.
In den nächsten Wochen sollten im betrieblichen und gewerkschaftlichen
Bereich und in lokalen Bündnissen Versammlungen durchgeführt werden, um
Rückberichte zu geben, die Demonstration auszuwerten und die nächsten
Schritte zu diskutieren. Das Demo-Bündnis sollte eine bundesweite
Aktionskonferenz durchführen und dazu vor allem in den Betrieben und
Gewerkschaften mobilisieren, um die nächsten Schritte des Widerstandes
gemeinsam zu diskutieren und zu beschließen. Für eine solche Konferenz
unterstützen wir den Terminvorschlag 13. Dezember, der im Raum steht.
Diese Konferenz sollte nicht nur über einen nächsten zentralen
Demonstrationstermin sprechen, sondern auch die Durchführung lokaler und
betrieblicher Steikaktionen diskutieren. Wie schon im Frühjahr in
Schweinfurt und seitdem in einigen anderen Orten geschehen, sind
Arbeitsniederlegungen und Streiks auch durch untere Gliederungen der
Gewerkschaften durchführbar. Das Demo-Bündnis sollte zu einem Demo- und
Streikbündnis werden. Diese Streikmaßnahmen sollten in eine nächste
bundesweite Großdemonstration münden. Der internationale Aktionstag als
Termin für die nächste bundesweite Großdemo, der bisher um den 20. März
geplant ist, wäre sehr spät, weil dann erst vier Monate nach dem 1.
November eine weitere Großdemo durchgeführt würde. Sollte die
Gewerkschaftsspitze jedoch ihre Blockadepolitik fortsetzen und müsste
erneut eine Mobilisierung von unten erfolgen, dann hätte dieses Datum
(vorausgesetzt, das Europäische Sozialforum in Paris im November
beschließt einen Termin um den 20. März als internationalen Aktionstag),
die größte Aussicht auf Erfolg. Nötig wäre es dann aber, in der
Zwischenzeit alles daran zu setzen, einen Kurswechsel in den
Gewerkschaften zu erreichen und parallel dazu lokale
Arbeitsniederlegungen zu organisieren. Solche Streikmaßnahmen und eine
auf dieser Basis erfolgende weitere Großdemonstration könnten den Druck
auf die Gewerkschaftsspitze enorm erhöhen, machtvolle Mobilisierungen,
flächendeckende Streiks und einen eintägigen Generalstreik durchzuführen.
Am 22. November organisiert die Initiative zur Vernetzung der
Gewerkschaftslinken in Frankfurt am Main eine bundesweite Veranstaltung
zur Frage „Wie weiter nach dem 1.11.?“ Am Besten wäre es, wenn auf
dieser Veranstaltung zum einen von dieser Ebene aus die Forderung nach
der Organisierung einer Großdemo und eines eintägigen Generalstreiks an
die Gewerkschaftsführung gerichtet würde, zum anderen jedoch konkret
über Initiativen von unten wie Streikmaßnahmen diskutiert würde und
schon ein Vorschlag an die bundesweite Aktionskonferenz zur Vorbereitung
und Durchführung lokaler, wenn nicht sogar regionaler Streiks erarbeitet
würde.
Unmittelbar steht aber an, den Protesttag gegen die
Sozialkahlschlagpläne der hessischen CDU-Regierung am 18.11. zu einem
großen Erfolg zu machen. Hier rufen GEW und GdP zu Arbeitsniederlegungen
und die anderen Gewerkschaften zu einer Demonstration in Wiesbaden auf.
In möglichst vielen Betrieben sollten an diesem Tag
Arbeitsniederlegungen durchgeführt werden. Die verbleibenden zwei Wochen
müssen dafür genutzt werden, in den Betrieben und Gewerkschaften
entsprechende Beschlüsse zu erreichen. Die Führung der Gewerkschaften
des Öffentlichen Dienstes in Hessen muss unter Druck gesetzt werden,
daraus einen hessenweiten Vollstreik im Öffentlichen Dienst zu machen.
Gleichzeitig sollten sich die SchülerInnen und StudentInnen durch einen
Schul- und Unistreik solidarisch mit ihrem Lehrpersonal zeigen und
ihrerseits gegen den Sozial- und Bildungsabbau auf die Straße gehen. Ein
Vollstreik im Öffentlichen Dienst von ganz Hessen würde die Frage eines
eintägigen bundesweiten Generalstreiks noch mehr auf die Tagesordnung
setzen als das jetzt schon der Fall ist.
In Nordrhein-Westfalen und im Mittleren Neckarraum haben ver.di und die
IG Metall bereits in den letzten Wochen Arbeitsniederlegungen gegen
Sozialkürzungen und für den Erhalt der Tarifautonomie organisiert. Daran
sollte jetzt angeknüpft werden. Wenn zum Beispiel ver.di Stuttgart, die
im Vorfeld der bundesweiten Demonstration schon eine bedeutende Rolle
gespielt hat, die Kampfbereitschaft der Beschäftigten bei den
Stuttgarter Straßenbahnen, bei den Krankenhäusern und in anderen
Bereichen aufgreifen würde und vor der anstehenden bundesweiten
Aktionskonferenz Arbeitsniederlegungen auf die Beine stellen würde, wäre
damit ein positives Beispiel für eine solche Konferenz gegeben.
Der 1.11. kann der Anfang einer in der Geschichte der Bundesrepublik
unvergleichlichen Massenbewegung sein. Die Unzufriedenheit in der
arbeitenden und erwerbslosen Bevölkerung nimmt mit jeder Tagesschau und
jeder Ausgabe der Tageszeitungen weiter zu. Die Wut wird sich noch mehr
steigern, wenn die materiellen Folgen der heutigen Gesetzesbeschlüsse ab
Anfang nächsten Jahres schmerzlich spürbar werden. Diese Wut wird sich
Bahn brechen und auch die Gewerkschaftsführungen im Laufe der nächsten
Monate zu Schritten zwingen, die sie bisher zu verhindern wussten. Eine
Situation vergleichbar mit den Massenstreiks in Österreich im Frühjahr
diesen Jahres wird sich möglicherweise im ersten Halbjahr 2004
entwickeln. Das ist eine große Herausforderung für die linken und
antikapitalistischen Kräfte in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen.
Ergreifen sie die richtigen Schritte und machen sie die richtigen
Vorschläge für die Führung des Kampfes gegen die große Koalition der
Sozialräuber, kann die gesellschaftliche Situation auf den Kopf gestellt
werden. Dann können die Gewerkschaften zu Streiks und zu einem
Generalstreik gebracht werden, dann kann die Regierung Schröder gestürzt
werden und eine neue Regierung hätte eine denkbar schlechte
Ausgangsposition gegen massenhaften Widerstand den Sozialabbau wie
geplant durchzusetzen.
Was ist dazu nötig?
1.Die kämpferischen Kräfte müssen sich in Widerstands- und
Streikbündnissen auf allen Ebenen zusammenschließen. Es darf nicht auf
Signale von oben gewartet werden. Einer bundesweiten Aktionskonferenz
müssen lokale und regionale Konferenzen von gewerkschaftlichen
Vertrauensleuten, Betriebs- und Personalräten, Attac, Sozialforen und
anderen sozialen Bewegungen, linken Parteien und Organisationen entsprechen.
2.Innerhalb der Gewerkschaften sollte der Aufbau
innergewerkschaftlicher Oppositionsstrukturen vorangetrieben werden.
Eine programmatische und personelle Alternative zu Stillhaltepolitik und
Co-Manegement ist das Gebot der Stunde. Bundesweite Treffen zum
Zusammenschluss der linken und kämpferischen Kräfte innerhalb von ver.di
und IG Metall sollten schnellstmöglich einberufen werden. Die
bundesweite Konferenz der Initiative zur Vernetzung der
gewerkschaftlichen Linken am 31. Januar sollte so ausgerichtet werden,
breitere Kreise von GewerkschafterInnen als bisher zu mobilisieren.
3.Die Forderung nach einer durch die Gewerkschaften organisierten
bundesweiten Massendemonstration in Berlin, und nach einem eintägigen
Generalstreik muss in den Mittelpunkt einer Widerstandskampagne gestellt
werden.
4.Unabhängig von der Haltung der Gewerkschaftsführungen sollten in den
Betrieben und Orten Streiks organisiert werden. Dazu sollte für Ende
Januar, Anfang Februar ein nächster bundesweiter, dezentraler Aktionstag
festgelegt werden. Der zu erwartende internationale Aktionstag um den
20.3. sollte zu einer nächsten Großdemonstration „von unten“ genutzt
werden, sollten die Gewerkschaften nicht zu einer früheren
Großdemonstration gezwungen werden können.
Neue Arbeiterpartei
Die Demonstration vom 1. November und noch mehr eine mögliche
massenhafte Protestbewegung gegen eine SPD/Grüne-Bundesregierung wirft
aber weitergehende politische Fragen auf, ohne deren Beantwortung eine
Bewegung Gefahr liefe in der Sackgasse zu enden. Fragen nach
Alternativen zur jetzigen Regierung und deren Politik. Die
Gewerkschaftsführungen werden auch weiterhin versuchen, Merkel, Merz und
Konsorten als das größere Übel darzustellen, da die Pläne der
Herzog-Kommission noch weitergehendere Vorschläge für die Zerschlagung
des sogenannten Sozialstaates darstellen. Sie werden auf die einfache
Logik setzen, dass CDU/CSU und FDP keine positive Alternative zur
jetzigen Regierung sind, um die Bewegung zu bremsen. Dem muss
entgegengehalten werden: Eine Bewegung, die mit Schröder fertig wird,
hätte auch gute Chancen, die Pläne einer CDU/CSU-Regierung zu
durchkreuzen. Die einzige Chance den Sozialkahlschlag zu stoppen ist
aber eben, eine starke Widerstandsbewegung aus den Betrieben und den
Wohnvierteln heraus aufzubauen. Trotzdem bleibt die Frage im Raum,
welche Regierung man denn will und welche Politik diese machen soll. Die
einfache - und zugleich schwierige - Antwort ist: Keine der Regierungen,
die von den derzeitigen Parteien gebildet wird, kommt dafür in Frage.
Der 1. November hat mehr noch als die jüngsten Umfragen, bei denen die
SPD bei weniger als 30 Prozent Unterstützung herumdümpelt, vor Augen
geführt, wie tief der Hass gegenüber der Sozialdemokratie sitzt. Es gab
eine Vielzahl von selbstgemalten Schildern und Transparenten, die sich
gegen die „Sozial-Plünderer Deutschlands“ richteten. Unter der
Schröder-Regierung hat die SPD mehr als 100.000 Mitglieder verloren. Die
Wähler- und Anhängerschaft ist rapide zusammengeschrumpft. ArbeiterInnen
und Erwerbslose sehen die SPD nicht länger als ihre Partei an. Die
SPD-Linke und die JungsozialistInnen, (die von auf ihrem Höhepunkt
300.000 Mitgliedern auf 50.000 eingebrochen sind), stellen nur noch
einen Schatten ihrer selbst dar. Das klägliche Scheitern des
Mitgliederbegehrens spricht für sich. Erst kürzlich ließ sich das
verlorene Häuflein angeblicher Parteilinker im Bundestag bei der
Abstimmung zu den weiteren Hartz-Gesetzen und der Senkung des
Spitzensteuersatzes rasch weichklopfen. Schröders Auftritt beim IG
Metall-Gewerkschaftstag machte auch deutlich, dass der „Genosse der
Bosse“ gar nicht mehr darum bemüht ist, Gewerkschaftsmitglieder bei der
Stange zu halten, sondern bereit ist, die offene Konfrontation einzugehen.
Die PDS ist ebenfalls schon lange kein Anziehungspunkt für ArbeiterInnen
und Jugendliche mehr, die gegen den Sozialraub aktiv werden wollen. In
Berlin und Mecklenburg-Vorpommern setzen sie die gleiche Politik wie die
„Agenda 2010“ bei ihren Regierungsbeteiligungen ohne Abstriche mit um.
Beim jüngsten PDS-Bundesparteitag gab es dafür sogar mehr Zuspruch als
Kritik. Dort bekamen Bisky und Co. für ihr neues Parteiprogramm, das ein
Bekenntnis für Wettbewerb, Privateigentum und Marktwirtschaft ablegt,
knapp 80 Prozent Zustimmung der Delegierten. Von einer kritischen und
kämpferischen Parteilinken mit substanzieller Basis keine Spur. In die
PDS werden seitens der arbeitenden und erwerbslosen Bevölkerung kaum
noch Erwartungen gesetzt. In Berlin wurde kürzlich Gregor Gysi auf einer
Kundgebung gegen die Erhöhung der Kita-Gebühren ausgepfiffen. Im
Frühjahr erhielt eine Kollegin bei einer Protestaktion gegen die
Tarifflucht des SPD/PDS-Senates auf dem Potsdamer Platz den meisten
Beifall als sie ausrief: „Wir haben rot gewählt und schwarz bekommen.“
Will man eine Regierung, die die Interessen von Beschäftigten und
Erwerbslosen vertritt, muss erst eine Partei von Beschäftigten und
Erwerbslosen aufgebaut werden. Kämpferische GewerkschafterInnen und die
AktivistInnen der sozialen Bewegungen werden um diese Frage nicht herum
kommen: Wie kann eine neue politische Interessenvertretung der breiten
Masse der Bevölkerung aufgebaut werden, die eine gesellschaftliche
Alternative aufzeigen kann und die bürgerlichen Parteien herausfordern
kann?
Die Bedeutung dieser Frage wird von einer Anekdote am Rande der
Demonstration illustriert: Drei DemoteilnehmerInnen fragen ein
SAV-Mitglied aufgebracht, „Wie soll es denn jetzt weitergehen? Was
sollen wir nach der Demo machen?“ Nachdem die SAVlerin nicht nur unsere
nächsten Kampfvorschläge sondern auch die Notwendigkeit hinsichtlich
einer neuen Partei erklärte, sagten die DemonstrantInnen: „Du bist die
erste, die uns darauf eine Antwort geben konnte. Was Du vorschlägst, ist
vielleicht kein leichter Weg, aber es ist ein Weg.“
Die Frage einer neuen Partei ist aber nicht zu trennen von der Frage
nach einem politischen Programm, das einen Ausweg aus der Krise des
Kapitalismus aufzeigen kann. Deshalb muss als Teil dieser Bewegung eine
Debatte über Alternativen zum kapitalistischen System und über ein
sozialistisches Programm begonnen werden. Denn nur wenn die Logik von
Privateigentum, Marktkonkurrenz und Profitwirtschaft durchbrochen wird
und durch ein Wirtschaften im Interesse von Mensch und Natur durch
internationale demokratische Planung und Kooperation ersetzt wird, kann
ein nachhaltiger Ausweg aus der aktuellen Krise erreicht werden.
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